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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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ihre ebenmäßigen jungen Zähne. Der Dolmetsch kam nicht
umhin, ihr die ganze Zeit auf den Mund zu sehen. Sie saß dicht neben ihm, es
ergab sich einfach, dass er ihr unverwandt ins Gesicht blickte. So sehen
einander normalerweise nur Leute an, die sich sehr nahestehen. Neben dieser
jungen Frau fühlte der Dolmetsch sich plötzlich alt.
    Da
schepperte der Riegel, und ein junger Mann im Trainingsanzug wurde
hereingeführt. Kräftiger Bursche mit kurz geschorenem Haar. Kein auffälliges
Gesicht - einer wie er konnte auf den Moskauer Vorstadtbasaren stehen oder auch
als Geschäftsmann zu Verhandlungen nach Zürich gereist kommen. Ein säuerlicher
Geruch ging von ihm aus, er hatte sich wohl länger nicht gewaschen.
    Forsch
streckte Frau P. ihm die Hand entgegen. Er nahm sie, drückte zu und grinste.
    Der
Dolmetsch verzichtete auf die Erklärung, dass man in seiner Heimat Frauen zur
Begrüßung nicht die Hand gibt.
    Sie wurden
wieder eingeschlossen; vorher bekamen sie den Notknopf gezeigt, mit dem die
Wache zu rufen war. Für alle Fälle.
    »Herr
Iwanow«, begann Frau R, nachdem die Formalitäten absolviert waren, »ich rate
Ihnen, sich in allem schuldig zu bekennen. Sie werden ohnehin aus der Schweiz
ausgewiesen werden. Es ist in Ihrem Interesse, mit den Behörden zu kooperieren.
Dann müssen Sie weniger lange im Gefängnis sitzen und können schneller nach
Hause.«
    Der
Dolmetsch übersetzte.
    Der
Bursche grinste schon wieder.
    »Wer sagt
Ihnen denn, dass ich nach Hause möchte?«
    Der
Dolmetsch übersetzte.
    »Aber in
diesem Fall erwartet Sie eine Zwangsdeportation.« Der Dolmetsch übersetzte.
    »Na, da
mach ich mir in die Hosen!«, sagte der junge Mann und kratzte sich zwischen den
Beinen.
    Interessiert
musterte Frau P. ihren Mandanten, der plötzlich in Fahrt kam.
    »Glaubt
ihr, ich bin doof? Ich weiß, wie man Krawall schlägt, damit keiner mich an Bord
haben will. Und wenn der Käpt'n nicht will, dann könnt ihr euch auf den Kopf
stellen! Einbuchten dürft ihr mich eh nicht länger als ein halbes Jahr. Meint
ihr, das wüsste ich nicht? Danach müsst ihr mich laufen lassen. Hab ich recht?
Nicht ihr habt mich an den Eiern, nein - ich euch! Dass das mal klar ist! Eurer
Schweiz geh ich so lange auf den Sack, wie ich will!«
    Beide, der
junge Mann und die Anwältin, blickten den Dolmetsch erwartungsvoll an. Er
übersetzte. Frau P. zeigte sich bestürzt.
    »Verstehen
Sie, Herr Iwanow, ich möchte Ihnen helfen!« Der Dolmetsch übersetzte.
    »Helfen
will sie mir, ha, ha! Loswerden wollte ihr mich alle, von wegen helfen! Ihr
kommt gut ohne mich klar! Du Arschloch dolmetschst hier und schaukelst dir die
Klöten, aber vielleicht will ich auch mal in menschlichen Verhältnissen leben!
Meint ihr, ihr seid was Besseres als ich? Vielleicht ist es ja umgekehrt! Nur
dass ihr gut angezogen seid und parfümiert, und ich hab nicht mal Klamotten zum
Wechseln.«
    »Was sagt
er?«, fragte Frau P.
    »Das
gehört nicht zur Sache«, antwortete der Dolmetsch.
    »Ich
möchte, dass Sie alles übersetzen«, sagte sie. »Gut.« Und der Dolmetsch
übersetzte ihr alles, was der andere gesagt hatte.
    Unterdessen
geriet der junge Mann noch mehr in Rage, offensichtlich hatte er lange keine
Gelegenheit gehabt, sein Herz auszuschütten.
    »Vielleicht
wollte ich ja auch nur anständig leben und arbeiten, und dann lag ich vor
lauter Anstand mit der Fresse im Dreck! Vielleicht wollte ich ja auch nur
Wohnung und Familie und was der Mensch braucht - aber wo nehm ich das Geld her?
Wer Geld will, muss Handel treiben. Das hab ich gemacht. Und einen Haufen
Schulden. Da gibt es Leute, die warten nur drauf, dass ich zurückkomme, mir den
Kopf abzureißen. So sieht's aus, das schöne Business. Und warum ist das so?
Sind die Schweizer etwa besser als die Russen? Meine Vorfahren, sind die
weniger wert als eure? Vielleicht sind sie ja mehr wert! Bei euch vorm Fenster,
da haben die Schlote von Auschwitz gequalmt, euch hat das nichts ausgemacht,
ihr hattet ein schönes Leben. Mein Großvater, der hat gegen die Faschisten
gekämpft, einen Arm eingebüßt an der Front. Und meine Mutter, die war ihr Leben
lang Erdkundelehrerin, stellt euch vor. Und was hat sie davon? Etwa eine
ordentliche Pension? Einen Scheißdreck hat sie. Bei der Rente muss
sie nachts am Bahnhof stehen und Wodka verscherbeln. Was hat sie falsch
gemacht, frag ich. Ihr lebt hier wie die Maden im Speck, so sieht's doch aus!
Du bist Russe, sag mir gefälligst, ob ich recht habe! Und übersetz ihr

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