Schischkin, Michail
lieber
Bach, wirst einmal drei Kinder haben und ein langes, langes Leben, und dir,
Fels, prophezeie ich zwei Frauen, beide mit einem Muttermal an der rechten
Schulter. Das Strohdach vom Sonnenuntergang mit Ziegelmehl bepudert. Fenster
wie Haut und Knochen, man starrt hindurch und sieht doch nichts - als hätte
einer mit der Zunge Libellenflügel zusammengeklebt. Das Vordach lange nicht
gestrichen. Asthmatisch keuchende Treppenstufen: beim Drauftreten aus, beim
Abstoßen ein. Sachtes Anklopfen, keine Reaktion. Pflastersteine in Apfelsinennetzen
hängen an den Apfelbäumen, damit sie in die Breite wachsen. Weiße
Fliedertrauben, rostig nach dem Regen. Bei der Birke unter dem Waschbecken ist
das Gras zahnpastabeschmiert. Im Phlox ein alter Ziegel. Vielleicht liegt der
Schlüssel darunter?, fiel dem Wanderer ein. Er tastete - da war nur ein
Tausendfüßler. Erneutes Klopfen, diesmal lauter. Schlurfende Schritte hinter
der Tür, Hüsteln, Dielenknarren. Eine sonderbare Stimme fragt: »Wer bist du?« -
»Ich bin ich«, sagt der Wanderer. Und hört den Mann drinnen sagen: »Hier ist
kein Platz für zwei.« Der Wanderer steht da und sieht einen Schmetterling, von
zu viel Luft ins Taumeln geraten, im Schorf aus alter Farbe auf dem
Fensterbrett landen, das Pfauenauge schaut ihn an, zwinkert unversehens. Der
Wanderer klopft ein drittes Mal und bittet um Einlass, die Stimme drinnen
wiederholt ihre Frage. Und immer so fort. Bis zu dem Moment, in dem das Pfauenauge
davonfliegt und der Wanderer auf die Frage »Wer bist du?« mit »Ich bin du!«
antwortet. Da öffnet sich die Tür. Aber das hättest du alles auch ohne mich
gewusst.
Frage: Ich kann
mir diese sonderbare Stimme sogar ziemlich gut vorstellen. Ich höre sie
tagtäglich. Mein Nachbar führt nämlich unablässig Selbstgespräche. Anzunehmen,
dass er früher, vor vielen Jahren, bevor aus ihm ein Junge wurde, diese lustige
Holzpuppe war, Pinocchio. Und dann hat die böse Fee ihn in einen Menschen
verwandelt, der immer noch mit Puppenstimme spricht. Pinocchio hat das Meiste
hinter sich und ist nun alt und vergesslich genug, um stündlich in
schmuddeligen Unterhosen zu den Briefkästen zu wandern, was die Leute sehr
erschreckt, denn die Briefkästen sind bei uns auf dem Hof, und nachts fegt er
mit seinem kleinen Handfeger den Gehweg, auf den die Kiefer ihre Zapfen und
Nadeln fallen lässt. Wir wohnen in einem soliden Haus wie das von Schweinchen
Schlau, nur dass unseres viele Einraumwohnungen hat, zu klein, als dass ein Wolf
seine Schnauze hineinzustecken vermöchte. Die alten Leutchen, die hier wohnen,
verpuppen sich still und leise. Bis sie sich eines Nachts aus dem Kokon beißen
und davonfliegen, der alte Pinocchio in Unterhosen brummelt sich eins, sein
kleiner Besen raschelt. Und die Kiefernnadeln rieseln und rieseln. Eine
Geschichte vom Wanderer erfinden, das kann jeder. Ist doch alles Zinnober.
Antwort: Wieso?
Frage: Die Welt
sortiert sich anders. Heu und Stroh, Tick und Tack, Farbe und Leinwand, Sohle
und Weg, Spiegel und Zimmer, Meter und Sekunde, Fels und goldnes Wölkchen,
buckliger Sakko und verqualmter Rock, Saite, die schwingt, und Luft, die den
Ton hervorbringt...
Antwort: Na schön.
Dann bist du ein schreibender Stempel und ich ein sprechendes Staubfädchen.
Kann losgehen.
Frage: Wie
geht's?
Antwort: Alles gut.
Frage: Das gibt
es nicht.
Antwort: Na und?
Frage: Was gibts
Neues?
Antwort: Du guckst
doch Nachrichten!
Frage: Nachrichten
ist das falsche Wort dafür. Was die hier unter Nachrichten verstehen, das
kannst du dir nicht vorstellen. Schaltest du den einen Sender ein, bringen sie
dort Vermischtes aus der High Society: Der Viehhändler Lysikles, an sich ein
nichtswürdiger Mensch und von niederer Abstammung, ist auf einmal die Nummer
eins in Athen, weil er nach Perikles' Tod das Bett mit Aspasia teilt. Du
schaltest um zum nächsten: Da spaziert Dionysos über den Montmartre und trägt
sein abgeschlagenes Haupt auf den Händen vor sich her, dass es nur so tropft.
Auf dem dritten Kanal rennen die Römer schon seit einem halben Jahr gegen die
Mauern von Jerusalem an. Auf Kanal vier verkündet einer, er wäre der neue Onkel
Doktor vom Kindergarten und müsste gleich einmal bei allen Kindern auf dem Hof
nachsehen, ob sie Pickel am Po haben, aha, na dann müssen wir zwei jetzt mal miteinander
in die Poliklinik gehen.
Antwort: Das sollen
Neuigkeiten sein? Von dem falschen Onkel auf unserem Hof habe ich schon vor x
Jahren erzählt!
Frage: Neuigkeiten
sind
Weitere Kostenlose Bücher