Schischkin, Michail
es war eine junge Dame mit einem vom schnellen
Gehen geröteten Gesicht. Frau P. entschuldigte sich für die Verspätung und
drückte dem Dolmetsch fest die Hand. Sie benahm sich betont nüchtern und
sachlich, hatte es jedoch eilig mitzuteilen, während die beiden vor dem Gefängnistor
warteten, dass sie erst in diesem Jahr mit dem Studium fertig geworden sei und
außerdem heute auf die Hochzeit ihres Bruders gehe. Als sie erfuhr, dass der
Dolmetsch aus Russland stammte, rief sie freudig aus: »Und mein Bruder
heiratet eine Slowakin!«
Offensichtlich
hatte sie dem Dolmetsch etwas Nettes sagen wollen - in der Annahme, dass
zwischen Slowakei und Russland kein großer Unterschied sein konnte. Bei neuer
Bekanntschaft ist man ja immer erst einmal darauf aus, Gemeinsamkeiten zu
finden. Der Dolmetsch tat so, als wäre es ihm tatsächlich eine Freude.
Sie wurden
eingelassen. Zeigten ihre Ausweise vor, gaben Taschen und Mobiltelefone ab,
traten durch spezielle Türen, die an Flughäfen denken ließen, und waren nun im
Gefängnis.
Durch
einen labyrinthischen Flur geleitete man sie in eine winzige Kammer, in der
ein kleiner Tisch und drei Stühle gerade so Platz hatten. Hier wurden sie
eingeschlossen.
Während
sie auf den Häftling warteten, klärte Frau P. den Dolmetsch auf, um wen es
ging. Ein gewisser Sergej Iwanow, Asylsuchender aus Weißrussland, hatte schon
vor längerer Zeit einen abschlägigen Bescheid bekommen, befand sich aber immer
noch auf Schweizer Boden. War noch dazu mehrfach auffällig geworden wegen
Diebstahl und Prügeleien unter Alkohol, ein Mal sogar handgreiflich gegen einen
Schaffner im Zug.
»Ja, ja,
immer die gleichen Geschichten«, nickte der Dolmetsch, um das Gespräch in Gang
zu halten. »Und immer heißen sie Sergej Iwanow.«
Frau P.
legte den Kopf schief, sodass ihre Haare dem Dolmetsch dicht vor der Nase
hingen. Von Zeit zu Zeit schob sie sie zurück hinters Ohr. Darin kein Ohrring,
nicht einmal ein Loch dafür. Sie war auch nicht geschminkt. So lange lebte der
Dolmetsch nun schon in diesem Land und konnte immer noch nicht verstehen, warum
die Schweizerinnen sich Frau zu sein scheuen. Der Duft ihres Parfüms
allerdings, auf der Straße kaum wahrnehmbar gewesen, stieg ihm hier auf engstem
Raum eindringlich in die Nase.
»Ich habe
bereits mit Albanern, Afrikanern und Kurden gearbeitet, doch noch nie mit
einem Russen«, erklärte Frau P.
»Und ich
habe es nur mit denen zu tun«, scherzte der Dolmetsch.
»Aber
Weißrussland, das ist doch nicht Russland?«, fragte Frau P.
»Wie soll
ich sagen«, begann der Dolmetsch und wollte etwas über die komplizierten
ethnischen Zusammenhänge in seiner Heimat ausführen, da war Frau P. schon dabei
zu sagen, dass sie noch nie in Russland gewesen sei und unbedingt einmal mit
der Transsibirischen Eisenbahn fahren wolle.
»Das muss
sicher sehr interessant sein?«
»Sicher«,
erklärte der Dolmetsch sich einverstanden. Aus irgendeinem Grund wollen alle
Schweizer mit dem Zug durch Sibirien fahren. Solange der Dolmetsch in Russland
lebte, hatte er nie diesen Wunsch gehabt. Und auch jetzt würde er lieber das
Flugzeug nehmen.
»Dieser
Herr Iwanow ist ja immer wieder gewalttätig«, schloss sie an und ließ den Blick
über die Akten gehen, die sie einem Hefter entnommen und auf dem Tisch vor sich
ausgelegt hatte. »Schauen Sie, er ist in betrunkenem Zustand in eine
Coop-Filiale gegangen, hat sich da allerlei Lebensmittel genommen und ohne zu
zahlen noch im Laden zu essen und trinken angefangen, vor allen Leuten. Dann
belästigte er ein paar Frauen. Und schließlich widersetzte er sich auch noch
den Beamten.«
Mit
Befremden blickte sie den Dolmetsch an, als erwartete sie von ihm eine
Erklärung für das so sonderbare Verhalten seines Landsmannes.
»Verstehen
Sie«, suchte der Dolmetsch sich herauszureden, »die Russen sind im Allgemeinen
gutmütig, ruhig, nur eben wenn sie sich betrinken...«
Sie lachte
auf, schien das Gesagte für einen Scherz zu nehmen.
»Das
heißt, Sie feiern heute ein Fest«, sagte der Dolmetsch, um das Thema zu
wechseln. »Ich gratuliere. Am Vormittag das Gefängnis und am Nachmittag eine
Hochzeit?«
»Sehen
Sie, so ist das«, sagte sie lächelnd, und mit einem tiefen Seufzer fügte sie
hinzu: »In diesem Leben ist alles beisammen. Der eine sitzt im Gefängnis, der
andere tanzt auf einer Hochzeit. Die Welt ist nicht gerecht.«
»Ja«,
sagte der Dolmetsch und nickte. Mehr wusste er dazu nicht zu sagen.
Beim
Lächeln zeigte Frau P.
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