Schischkin, Michail
Hände wegsteckt.
Hochwasser!
Heute ist der 22. oder 23.?
Die ganze
Zeit am Fenster gesessen und geschaut. Zuerst war da auf unserem
Sredni-Prospekt nur eine Riesenpfütze, in der die kleinen Jungs mit
aufgekrempelten Hosenbeinen herumsprangen. Dann nahm das Wasser auf einmal sehr
schnell zu. Sehe ständig zur Uhr: Um sechs war unser Gehsteig noch trocken,
kurz nach sieben drang das Wasser schon in die unteren Etagen ein.
Aus dem
Hahn kommt kein Wasser mehr. Der Strom ist ausgefallen. Die ganze
Wassilewski-Insel in Finsternis versunken. Ein bizarres Venezia. Boote fahren
durch die Straßen. Verrückt.
Plötzlich
der Gedanke: Das ist die Sintflut! Das ultimative Große Wasser. Die Strafe
Gottes. Und weißt Du, wofür? Dafür, dass wir nicht beisammen sind.
Schreckliche
Nacht.
Eine Reihe
von Explosionen. Irgendwo ein Großbrand. Der halbe Himmel feuerrot.
Was die
Liebe angeht, weiß ich eines sicher: Eine so lange Trennung ist Gift.
Nie wieder
werde ich mich auf solch einen Langzeitvertrag einlassen! Ich muss bei Dir
sein, immer. Ich möchte von Deinem Tellerchen essen, aus Deinem Becherchen
trinken, Dich küssen überall, Deinen Geruch beständig in der Nase haben. So
schlicht, so vulgär ist meine Liebe zu Dir, Serjoshenka! Und dafür schäme ich
mich nicht im Geringsten!
Als Du
hier warst, bei mir, da war alles gut. Aber die Uhr tickte. Und Du musstest zum
Zug. Ich hätte das Uhrglas am liebsten geöffnet und den Zeiger mit dem Finger
festgehalten! Denn solange der Zeiger nicht am ominösen Punkt anlangte, war
alles da, was ich brauchte, danach hatte ich gar nichts mehr. Und so kam es.
Ich brach in Tränen aus, was Du nicht verstehen konntest: Wir sind doch
zusammen, wir haben es doch gut. Ich rannte ins Bad, meine verheulte Visage zu
richten. Flehte Dich an zu bleiben, zürnte Dir, dass Du es einfach nicht
fertigbringst, sie zu verlassen, zu mir zu ziehen, sprach das alles ins Waschbecken
hinein, und der Strahl aus dem Hahn spülte die Worte weg.
Von
morgens an Sonnenschein. Alles steht unter Wasser.
Irgendwo
hat es ein Holzlager weggeschwemmt, das gesägte Holz kommt unseren Prospekt
entlanggetrieben wie dicke, tote Fische. Leute stehen auf den Baikonen, lassen
Körbe an Seilen hinab und versuchen das Holz zu angeln.
Inzwischen
weiß ich, dass letzte Nacht die Lagerhallen des Chemiewerks auf der Insel
Watny in die Luft geflogen und abgebrannt sind.
Den lieben
langen Tag laufe ich durch die Wohnung und rede mit Dir oder führe
Selbstgespräche wie eine vertrottelte Alte.
Dabei
möchte ich Dir nur sagen, wie sehr ich Dich liebe - und habe keine Gelegenheit
dazu!
Wir
sollten beieinander sein - und sei es nur, damit alle Worte überflüssig werden.
Gleich
ziehe ich mich aus und gehe zu Bett. Werde wieder ins Kissen beißen, um nicht
laut zu heulen. Bloß gut, dass Dein Taschentuchmännlein mich beim Daumen
nimmt.
Das Wasser
sinkt. Das Holz kommt zurückgeschwommen. Das Ende der Welt wird verschoben.
Geschieht denen allen recht!
Mit Iossif
in der Stadt, eben zurück. Großes Volksbegängnis auf den Straßen! Die ganze
Uferpromenade voller Holz. Überall Spuren des Wassers, viel Dreck. Die
Straßenbahnen fahren noch nicht wieder, auf der ganzen Länge des Newski hat es
das Pflaster aus dem Boden gespült, in die Fenster der Restaurants und
Geschäfte hinein. Sämtliche Scheiben in den Erdgeschossen sind zu Bruch
gegangen. Im Alexandergarten steht noch das Wasser. Bis zum Sommergarten sind
wir nicht vorgedrungen, man spricht von vielen entwurzelten Bäumen und
zertrümmerten Statuen. Wir sahen einen Schleppkahn auf der Uferstraße liegen.
Ich
glaube, meine Stimme kehrt zurück.
Viertel
vor acht stand der Dolmetsch schon vor dem Tor des Gefängnisses und läutete.
Einer der üblichen Aufträge: Anwaltsgespräch mit einem Inhaftierten. Reichlich
früh, er war unausgeschlafen und fror. Aus der Gegensprechanlage hieß es, der
Dolmetsch solle auf den Anwalt warten, dann würden sie gemeinsam eingelassen.
Zitternd
vor Kälte verwünschte der Dolmetsch den zu spät kommenden Anwalt und vertrieb
sich die Zeit damit, über die gefrorenen Pfützen zu laufen. Das Eis knatschte.
Die
Anwälte werden in solchen Fällen vom Gericht bestellt und legen wenig Eifer an
den Tag: Zumeist empfehlen sie den ihnen Anbefohlenen, alle Sünden zuzugeben
und den Richter um Nachsicht zu bitten. Reine Formsache. Doch der Dolmetsch
wird bezahlt dafür.
Endlich
tauchte der Anwalt auf - und
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