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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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das Engagement erkenntlich zeigen sollte. Mir wird jetzt noch schlecht,
wenn ich an seine Kohlfinger denke, und wie er mir ins Ohr blies: »Nicht Bella
- Baiser sollten Sie heißen!« Ich schüttelte seine Hände ab. »Lassen Sie das,
ich bitte Sie!« Er versuchte mich zu küssen. Ich knallte ihm eine rechts und
links, stieß ihn vor die Glatze und floh aus der Wohnung. »Sollten Sie es sich
anders überlegen - jederzeit gern!«, brüllte er mir nach. Das Engagement war
ich natürlich gleich los, wie man sich denken kann.
    Zwanzig
Jahre ist das her! Und nun sehen wir uns wieder und machen einander
Komplimente!
    Die Wege
des Herrn sind unerforschlich.
     
    Heute
Nacht von Papa geträumt. In Tränen erwacht.
    Wir
spazieren miteinander durch den Garten, hier in Valentinowka. Ich zeige ihm die
Johannisbeersträucher, die Erdbeeren, die jungen Apfelbäume. Als ich ihm die
von den früheren Besitzern übernommenen Kirschbäume zeigen will, die noch gestern
so reich trugen, dass sie aus der Ferne rot aussahen - sind plötzlich keine
Kirschen mehr da, nur ein paar vertrocknete, angepickte Reste. Ich bin ganz
fassungslos, er versucht mich zu trösten, streicht mir über den Kopf, als wäre
ich wieder klein, und sagt: »Na, na, wer wird denn weinen! Alles halb so
schlimm, bald erscheint deine erste Schallplatte! Dann hört dich das ganze Land!
Und alle werden dich lieben!« Ich aber heule nur noch mehr: »Das ist mir doch
alles egal, Papa! Mein geliebter Papa! Hauptsache, du bist gar nicht tot!« Und
dann bin ich aufgewacht.
    Bei dem
bloßen Gedanken, dass ich ihn vor seinem Tod nicht mehr gesehen habe, nicht
einmal auf der Beerdigung war, könnte ich vor Tränen vergehen.
    Das letzte
Mal, als wir uns sahen, wusste er schon über sich Bescheid, während ich es
nicht wahrhaben wollte. »Ich frage mich, warum man aus dem Leben gehen muss,
wenn man gerade erst anfängt, etwas davon zu verstehen«, sagte er damals. »Red
keinen Unsinn!«, protestierte ich, »du erlebst noch die hundert, pass mal auf!«
    Ein Foto
von der Trauerfeier ist alles, was ich habe. Er liegt ohne Brille im Sarg und
sieht sich überhaupt nicht ähnlich. Aufgebahrt ist er auf dem Tisch - da wo
wir immer zu Abend gegessen haben.
    Papa
hütete bei sich zu Hause irgendwelche aus den Kurganen ausgegrabenen
Altertümer. Manchmal ließ er mich seine Schätze sehen. »Tausend Jahre sind
vergangen, seit ein Meister diese Schnalle fertigte, das muss man sich
vorstellen!«, so sprach er jedes Mal. Und jetzt kommt es mir so vor, als wäre
der Moment, da er mir die Schnalle hinhielt, noch länger her.
    Verzweifelt
suche ich mich zu erinnern, worüber wir sprachen, bevor wir damals
auseinandergingen. Das waren doch seine letzten Worte an mich! Es will mir
nicht einfallen. Ich war wohl mit den Gedanken woanders. Wenn ich gewusst
hätte!
    Es quält
mich, dass wir kein einziges Mal richtig miteinander geredet haben, über die
wirklich wichtigen Dinge. Wenn wir uns sahen, sprachen wir über Nichtigkeiten.
Zwischen Vater und Kind, meine ich, sollte es wenigstens einmal ein
wesentliches Gespräch geben. Über das, was das Leben ausmacht. Inzwischen ist
Papa lange tot, und ein solches Gespräch wird in meinem Leben nicht mehr
stattfinden.
    Und Mama?
Meine gute alte Mama! Ich habe dich so lieb! Und kann dir meine Liebe so
schlecht zeigen! Auch wir beide reden immer nur über irgendwelche Bagatellen.
    Gestern
ist sie den halben Tag durch den Wald gerannt und stocherte mit ihrem Stock in
Ameisenhaufen. Sie hat kranke Beine, und jemand hat ihr erzählt, man müsse
Ameiseneier in Spiritus einlegen und sich mit diesem Gemansche die Knie einschmieren.
    Und letzte
Woche verfiel sie auf die Idee, sich ein Kleid zu nähen für die Beerdigung -
ihre eigene. Das Kleid, in dem sie beerdigt werden will. Sie drehte sich ewig
vor dem Spiegel, um zu prüfen, ob es ihr richtig steht.
    Ihre
Hauptbeschäftigung ist das Lesen. Sie liest aber nichts Neues mehr, nur was sie
von früher kennt. Manchmal sehe ich sie von hinten, wie ihr Rücken auf einmal
zu beben anfängt, dann hat sie etwas beim Wiederlesen so heftig ergriffen, dass
sie schluchzt. Noch öfter geschieht das, wenn sie Musik hört. Heute zum
Beispiel, als die Glöckchenarie aus dem Lautsprecher scholl: »Wohin läuft die
junge Hindu...« - da liefen ihr die Tränen.
    Unser
SI-234 kriegt auch ausländische Sender herein - ich mag es, am Frequenzregler
zu drehen und zu lauschen. Alle Welt sendet amerikanischen Jazz. Wenn ich zu
nichts mehr

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