Schischkin, Michail
Kiew.
Unübersehbare
Veränderungen zum Besseren schon in der Eisenbahn. Die Fahrt zügig, ohne
Verspätungen. Internationale Waggons, sehr komfortabel und sauber.
Wir wohnen
im Kontinental. Luxushotel aus alten Zeiten, mit antikem Mobiliar. Die
Schlüssel an einer klobigen Holzbirne - man weiß nicht, wo man sie lassen soll.
Wohl damit man sie nicht versehentlich einsteckt. Stadtbekannt ist das
Kontinental für die kleinen Eclairs, die täglich so gegen 12 Uhr gebacken
werden. Man schiebt sie sich ganz in den Mund - fantastisch!
Ich
entwischte meinen Leuten und machte mich auf ins berühmte Höhlenkloster.
Als ich
zum Dnepr kam, gingen mir die Augen über von all der Pracht. Hier von diesem
Hügel aus haben die alten Kiewer also ihre Idole den Fluss entlangtreiben sehen
und inbrünstig zu Perun gebetet: »Bäum dich auf!«
Wie gerne
hätten sie es gesehen, wenn ihr Gott es den Ruchlosen gezeigt, seine Macht
ausgespielt hätte! Doch die Idole tauchten nicht hervor, kamen nicht ans Ufer,
zahlten es niemandem heim. Wie tumbe Klötze trieben sie, der Willkür der Fluten
gehorchend, weiter.
Ich kam
mit einer Frau ins Gespräch. Sie sagte, ich solle unbedingt in der
Sophienkathedrale zur wundertätigen Ikone des Nassen Nikola beten. Der Name
rührt von einem Wunder her, so wusste sie zu erzählen: Es lebten einmal in Kiew
Mann und Frau, die hatten einen Sohn, Nikolai, der war noch ganz klein. Einmal,
als sie in einem Boot über den Dnepr setzten, rutschte das Kind der Mutter aus
den Armen und ertrank. Da bezichtigten die Eltern in ihrer Verzweiflung den
heiligen Nikolai, weil er ihnen nicht geholfen hatte, das Kind zu behüten;
alsdann besannen sie sich und baten um Vergebung und Trost in ihrem Unglück.
Und als der Kirchdiener am nächsten Morgen vor dem Gottesdienst die
Sophienkathedrale betrat, hörte er ein Kind weinen. Gemeinsam mit einem Wächter
stieg er hinauf in den Chor; dort, hinter einer fest verschlossenen Tür, die
erst mit einem Schlüssel zu öffnen war, lag vor der Ikone des heiligen Nikolai
das weinende Kind. Es war noch nass, wie frisch aus dem Wasser gezogen.
Komme
gerade aus dem städtischen Waisenhaus. Sprach dort mit dem Direktor, Dr.
Gorodezki. Äußerte meine Absicht, ein Kind zu adoptieren, bat um Unterstützung.
Erst haben
wir uns ausführlich unterhalten, dann führte er mich durch das Haus. Im
Hungerjahr 1933 habe es besonders viele Findelkinder gegeben, erzählte er.
Dutzendweise habe die Miliz sie vom Kreschtschatik aufgelesen. Es wurden Asyle
eingerichtet, Gorodezki bekam 500 Kinder zugeteilt. Viele von ihnen starben in
der ersten Zeit an Entkräftung und allerlei Krankheiten. Während er erzählte,
betrachtete ich die Kinder - alle wohlgenährt und sauber, die Mädchen in
einheitlichen Kleidchen, kahl geschoren, sodass sich eines schwer vom anderen
unterscheiden lässt. Wir warfen einen Blick in ein Krankenzimmer, wo den
Kindern ein eitriger Ausfluss aus den Augen quoll. »Was ist das?«, fragte ich.
»Ein
Trachom«, erklärte Gorodezki. Wir gingen weiter. Ich erfuhr, dass die Kinder
gar nicht wissen, dass sie im Waisenhaus leben - für sie ist es ein
Erholungsheim. »Irgendwann kommt Mama und holt mich heim.« Tatsächlich komme
öfter jemand und adoptiere eines der Kinder, dreißig allein in den letzten
sechs Monaten. Aber die Kinder seien wählerisch, sagte er lachend. Wenn einer
nicht reich genug sei, heiße es gleich: Zu dem gehen wir nicht, der ist ja
nicht mal mit dem Auto hier. Während wir auf dem kleinen Hof standen und
redeten, scharte sich eine Traube von Kindern um uns. Alle guckten sie mich an.
In ihren Augen die stumme Frage: Wer bist du? Nicht vielleicht meine
Mama?
»Galina
Petrowna!«
Sie hört
nicht. Ringsum rauscht die Piazza Mignanelli, der Ruf ertrinkt darin.
Der
Dolmetsch tritt ganz nahe an sie heran, doch die Galpetra - Kopf im Nacken,
versunken in den Anblick der unbefleckten Jungfrau auf der antiken Säule, wo
zuvor schon einmal ein römischer Kaiser gestanden hat - bemerkt ihn nicht.
Sie ist
immer noch die Alte: lila Kostüm, weißes Mohairmützchen, Winterstiefeletten,
die Reißverschlüsse halb offen. Sogar die Museumspantoffeln hat sie wieder an.
Und einen mit Klebeband angehängten Zettel auf dem Rücken. Selbigen!
Der
Dolmetsch versucht es noch einmal.
»Galina
Petrowna!«
Sie zuckt
zusammen, dreht sich um.
»Mein
Gott, hast du mich erschreckt!«
Sie
richtet ihr Mützchen.
»Und ich
stehe hier und denke: Musste das sein, dass sie
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