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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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hat
eine Haut wie unreife Vogelbeeren im Juli. Sie so anzustarren ist Ihnen
allerdings peinlich, also wenden Sie den Blick ab und schauen die ganze Zeit
aus dem Fenster - wo der Abendhimmel in gleicher Farbe leuchtet: unreife
Vogelbeeren! Da orientiert sich ein Sonnenuntergang am Teint einer jungen Frau.
Und dann, schon am Meer, das Wasser irgendwie seifig und der Wind verrümpelt
von Möwengeschrei. Bachstelzen balancieren mit trippelnden Füßchen den Saum
entlang. Der ans Ufer gespülte Tang ist zu riechen. Eine Anlegestelle, nicht
groß. Wellen schlagen ihr gegen die Pfähle, werfen mit Schaum nach Ihnen wie
mit Weinbeeren. Auf den eisernen Geländern hocken Möwen. Ab und zu weht es eine
herunter, sie schwingt sich kurz in die Luft und landet gleich wieder.
Gekreisch voller Schwermut. Himmel und Meer verschmelzen, so als schaute man
durch eine beschlagene Scheibe, doch bald erscheint der Horizont wieder - eine
dünne Linie, wie mit Lineal und spitzem Bleistift gezogen. Und Sie, frisch
eingetroffen, finden an der Wand Ihres Zimmers einen Abzählreim vor. Da steht
alles drin. Auch die schneeballwerfenden Negerlein vor dem Fenster sind
vermerkt. Auch Sie. Denn Sie sind ja eins von den kleinen Negerlein, gehen zum
Baden ins Meer, gehen unter, werden gerettet von Kapitän Nemo. Der lädt Sie ein
zu sich in seine Kabuse, lässt Sie an allen Rädchen und Kurbelchen drehen,
Knöpfe und Hebel, Riegel und Schieber betätigen, erklärt, was wozu da ist,
drückt Ihnen seine schweißige, speckige Kapitänsmütze auf den Lockenkopf. Verstehen
Sie, was ich meine?
    Antwort: Ich bin ja
kein Kind mehr. Der Abzählreim ist das Entscheidende, das habe ich mit der
Zeit begriffen. Es war mir nur anfangs nicht klar.
    Frage: Außerdem
sind alle Geschichten schon hundertmal erzählt worden. Und Ihre Geschichte, das
sind Sie.
    Antwort: Was habe
ich denn für eine?
    Frage: Egal. Die
simplen, banal-sentimentalen gehen immer gut, nach dem Motto: Erst war ich
Prinzessin, dann Aschenputtel.
    Antwort: Ich und
Aschenputtel?
    Frage: Das ist
doch bildlich gesprochen. Metaphorisch!
    Antwort: Hätten Sie
das gleich gesagt... Was bin ich denn für ein Aschenputtel.
    Frage: Na gut,
wenn Sie Aschenputtel nicht mögen, dann eben etwas anderes. Irgendeine
schlichte Tour, die die Situation zuspitzt und die Spannung zum Knistern
bringt: einer gegen alle, ein Guter inmitten von Bösen, so in der Art. Ein
durch die Untergrundbahn surfender Ritter, Kämpfer für Gerechtigkeit,
Beschützer der Benachteiligten, Tröster der Waisen und vor allem der Witwen,
selbst zu Unrecht verfolgt und für die Schuld anderer büßend. Billig, aber
zuverlässig: Das personifizierte Gute, das seine Fäuste zu gebrauchen weiß,
weckt unweigerlich Sympathien, und alle fiebern mit, dass es den Sieg erringen
möge.
    Antwort: Aus mir
wird schwerlich ein Ritter, das müssen Sie zugeben ...
    Frage: Na und?
Das ist doch ein alter Kindertraum von Ihnen: furchtloser Wahrheitssucher zu
sein! Wenn ich groß bin, werd ich Detektiv, haben Sie gesagt. Verbrechern das
Handwerk legen, das Böse bestrafen. Oder gleich in die Taiga gehen als ein
Robin Hood, Touristen das Geld abknöpfen, das sie sich unrechtmäßig
zusammengescheffelt haben - mit rechten Dingen hat noch keiner gescheffelt -,
und alles dem Kinderheim vermachen. Oder Kapitän Nemo sein, der sein U-Boot
als Ramme benutzt, die Bösen zu versenken und die Guten zu retten!
    Antwort: Weiß ich
nicht mehr. Was einer so träumt.
    Frage: Aber Sie
werden doch noch wissen, wie Sie einmal am Rand einer Grube saßen, oder war's
ein Steinbruch, irgendein steiler Hang, und plötzlich schrie da unten ein Kind.
Sie sind auf der Stelle runter - und dann war's eine Katze.
    Antwort: Richtig,
ich saß mit den Jungs auf der Müllkippe am Feuer. Eine Riesenkippe, da wurde
der Müll aus der ganzen Stadt hingekarrt. Es gab zerbrochene Schallplatten, die
man segeln lassen konnte. Oder zerschlissene Wärmflaschen, aus dem Gummi
konnte man prima Schleudern bauen. Durchgebrannte Glühbirnen explodierten wie
Granaten. Wir saßen ums Feuer, und die Älteren unter uns erzählten vom
Jugendknast. Das war das Ärgste, wo man hinkommen konnte, und wir kriegten
erzählt, was dort geht und was nicht. Wenn man zum Beispiel in Einzelhaft
sitzt und nichts zu rauchen hat - was tut man? Sie haben die Rinde von den
Birkenruten im Reisigbesen geklaubt und getrocknet. Und um die zu rauchen -
Streichhölzer gab's nicht -, haben sie die Watte aus den Kissen und

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