Schischkin, Michail
schon mal auf der
Welt gewesen und gestorben. Und wiedererweckt würden wir vor Gericht und
müssten berichten, wie wir gelebt haben. Das heißt, der Bericht ist unser
Leben, sagt der, und es genügt nicht, alles haarklein zu beschreiben, man muss
es vorführen, zur besseren Verständlichkeit, jede Kleinigkeit ist wichtig,
jedes Ding, das in deiner Hosentasche klimpert, jedes vom Wind geschluckte
Wort, jedes Schweigen. Das funktioniert wie eine Art Lokaltermin, bei dem die
Chronologie der Ereignisse rekonstruiert wird: Ich stand hier, am
Küchenfenster, hinter der mit Eisblumen bedeckten Scheibe, hab durch ein
gehauchtes Loch nach unten auf den Hof gespäht und zugesehen, wie einer mit
einer gelben Kehrichtschaufel sein Auto freischippte, das über Nacht eingeschneit
war, und währenddessen kam sie aus dem Bad, in den Morgenmantel gehüllt, um das
nasse Haar ein Handtuch geschlungen, schaltete den Föhn ein, nahm das Handtuch
ab und begann die Haare zu föhnen, wobei sie mit den Fingern durch die Strähnen
fuhr, und ich fragte: Willst du ein Kind von mir?, und sie darauf: Was sagst
du? Ich kann dich nicht verstehen! Und dabei muss man zeigen, wie man am
Fenster gestanden hat, muss das Glas auf der Haut spüren, den Föhn hören, ihr
verwuscheltes, nasses Haar vor sich sehen und wie die Finger hindurchfahren,
und auch die gelbe Schaufel im Schnee muss man sich vorstellen können. Vor
diesem Gericht hat es keiner eilig, alles will bis ins Kleinste dargelegt sein,
für einen Abend braucht man einen Abend Zeit und für ein Leben ein ganzes
Leben. Und so wird in aller Ruhe rekonstruiert, wie es wirklich war: den einen
Tag Federwolken, den nächsten Haufenwolken. Gerüche, Geräusche - absolut exakt.
Und du demonstrierst, wie einmal ein Steinchen in deinen Grützbrei geraten war,
und ein Stück Zahn brach ab: Hier, der gelbe Splitter, sehen Sie? Oder das
Erbrochene auf dem Fußboden des U-Bahn-Wagens, dem man anroch, dass dieser
Mensch Nudeln gegessen hatte. Und wie du dich einmal im Schlaf verliebtest,
glücklich erwachtest, es war noch nicht hell - da, hören Sie es, wie der
Hausmeister mit der Schneeschaufel über den Asphalt schrappt?
Antwort: Aber das
ist doch da draußen auf dem Hof der frierende Neger, der den Schnee
zusammenscharrt! Und seine kleinen Negerlein machen dort drüben eine
Schneeballschlacht!
Frage: Der will
auf dasselbe hinaus, sehen Sie. Alles hat echt zu sein, sogar die Geräusche.
Kurzum, das Leben - ein einziger Bericht. Und nichts lässt sich verheimlichen.
So wurde ich geboren, so habe ich meine Jahre verbracht, und so starb ich...
Das ist freilich alles großer Quatsch, in Wahrheit läuft es ganz anders. Man
kann doch nicht so naiv sein zu glauben, irgendjemand wäre bereit, Ihnen ein
Leben lang zuzuhören. Aber entschuldigen Sie, davon wollte ich gar nicht reden.
Antwort: Daraus
wird also nichts?
Frage: Eher
schlüpft ein Kamel durch ein Nadelöhr, das wissen Sie doch.
Antwort: Dann war
es das? Kann ich jetzt gehen?
Frage: Nein,
nicht doch, warten Sie! Setzen Sie sich.
Antwort: Wie ich
sehe, haben Sie einen interessanten Job. Beinahe wie ein Untersuchungsrichter:
was, wie, woher und wohin, warum und wieso. Fakten auf den Tisch. Lass sehen,
wo ich dir was anhängen kann.
Frage: Wenn das
so einfach wäre. Ein Untersuchungsrichter hat eine Leiche, ein Beil, Indizien,
Gegenüberstellungen, Identifizierungen. Und trotzdem bleibt es bis zuletzt
spannend, wer die Giftfische in den Pool gesetzt hat. Ein Rätsel! Ein
Geheimnis! Hingegen hier: Wo gibt es ein Geheimnis?
Antwort: Das fragen
Sie? Was ist mit uns? Die wir früher unser Leben gelebt haben und jetzt vor
Ihnen sitzen? Sind wir etwa kein Geheimnis?
Frage: Nur
insofern, als man sich fragt, wieso ihr überhaupt auf der Welt seid. Die
unbefleckte Empfängnis ist immer noch ein Grund zum Staunen, keiner mag daran
glauben, während die befleckte niemanden aufregt. Das ist das Geheimnis: Alles
ist schon mal da gewesen, nur ihr habt uns noch gefehlt, und auf einmal seid
ihr hier. Und dann wieder weg, für immer. Der Rest ist bekannt.
Antwort: Was ist
bekannt?
Frage: Alles. Was
war und was sein wird.
Antwort: Wem
bekannt?
Frage: Wie
erkläre ich Ihnen das am besten... Stellen Sie sich vor, man lädt Sie nach
Nigger Island ein. Sie sind angenehm überrascht, rechnen damit, dass etwas
Erfreuliches dort auf Sie zukommt, wozu sollte man Sie sonst einladen? Sie
fahren hin und träumen von Liebe. Und im Zug die Dame am Fenster gegenüber
Weitere Kostenlose Bücher