Schischkin, Michail
den
After getrieben. Ein paar Tage lagen Sie auf der Krankenstation, bis die
Blutungen im Dickdarm aufhörten. Korrekt?
Antwort: Von mir
aus.
Frage: Dann, als
die Rückführung in die Zone bevorstand, schlitzten Sie sich auf, ist das
richtig?
Antwort: Ja. Und
wenn schon! Ich wollte nicht zurück. Ich wollte ins Kreiskrankenhaus überwiesen
werden. Ein paar Wochen zuvor hatte ein Typ das gemacht und war abtransportiert
worden. Aber in meinem Fall tauchte der stellvertretende Koloniechef und
sogenannte Operativleiter auf, warf einen kurzen Blick auf mich und sagte:
Krankenhaus kommt nicht infrage. Der Arzt wurde gerufen, der mich gleich auf
dem Korridor zunähte, dann wurde ich zurück in den Arrest verfrachtet. Da
schnitt ich mich wieder auf. Etwas findet sich in so einer Zelle immer, womit
man sich schneiden kann. Ich zerschlug die Glühbirne und schlitzte mir die
Bauchdecke auf. Die Schnitte muss man so legen, dass die Därme austreten, in
solchen Fällen ist den Haftärzten das Risiko zu groß, die Sache selbst in die
Hand zu nehmen. Doch wieder kam der Stellvertreter: Und wenn du uns hier
verreckst - wir fahren dich nirgendwohin. Ich bekam Handschellen angelegt, der
Bauch wurde notdürftig verarztet, dann ließ man mich, ans Heizungsrohr gekettet,
allein.
Frage: Suchten
Sie den Tod?
Antwort: Nein,
wieso? Ich wollte leben. Lag da, halb weggetreten, und hatte mitten in der
Nacht das Gefühl, dass jemand gekommen war. Es war wieder der Stellvertreter.
Er ließ sich auf den Schemel fallen und sagte: Du wirst mich für eine Bestie
halten. Versetz dich in meine Lage. Glaubst du, du tust mir nicht leid? Mensch!
Dass einer so weit geht, sich selbst die Gedärme aus dem Bauch zu rupfen. Aber
denk mal nach: Wenn ich dich jetzt in die Klinik schaffen lasse, dann
schnippeln sich unter Garantie noch zwanzig auf! Ich darf nicht nur an dich
denken, es geht auch um die anderen! Denen allen musste ich zeigen, dass die
Nummer nicht zieht. Das Schneiden muss aufhören, die Selbstverstümmelung! Von
wegen Bestie. Ich hol euch Idioten von der Schippe!
Frage: Trifft das
zu?
Antwort: Er hat mir
das Leben gerettet.
Frage: Hat er Sie
doch in die Klinik bringen lassen?
Antwort: Das nun
nicht. Darum geht es auch gar nicht. In der Nacht hab ich im Fieber
halluziniert und immerzu vor mir gesehen, wie ich mit dem Jungen, Romka, den
Weihnachtsbaum schmücke. Ich hab ihn auf meinen Schultern sitzen, und er hängt
dieses ganze Spielzeug an die oberen Zweige. Oder wie ich ihn nach dem Baden
ins Laken wickele und auf das Sofa werfe, in den Kissenberg, um ihm die Nägel
zu schneiden - die sind nach dem Baden ganz weich, die Zehenkuppen prall und
trotzdem runzlig. Und wie ich ihn dann, schon schlafend, ins Bettchen lege, und
im großen Bett nebenan wartet die Frau auf mich, die Einzige, heiß Geliebte,
und flüstert: Komm endlich!
Frage: Moment
mal. Frau und Kind? Die hatten Sie doch damals noch gar nicht!
Antwort: Das ist es
ja. Die hatte ich damals noch nicht. Ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen das
erklären soll. Diese Menschen, die mir das Wertvollste sind auf der Welt, die
gab es noch nicht, doch war ich um ihretwillen schon bereit, bis zum Äußersten
zu gehen. Um mit dieser Frau zusammenzuleben, ganz normal, tagaus, tagein. Mit
ihr zu verwachsen. Und damit der Sohn mir zum Geburtstag ein Krakelbild malt
und mit großen, unsicheren Buchstaben FÜR PAPA dazuschreibt.
Weil diese Krakel womöglich das Allerwichtigste sind im Leben.
Frage: Mit diesen
Krakeln hat man Sie also geködert?
Antwort: Ja.
Frage: Die
Freiheit hatten Sie nicht mehr nötig?
Antwort: Nein.
Frage: Und sind
deshalb freigelassen worden?
Antwort: Ja. Ich
schrieb ein Gnadengesuch: Bin doch ein Härchen. Abzählreim ist o. k. Demnächst
im Haifischbecken. Kuss und Gruß. Mehr nicht.
Frage: Und wie
ging es weiter?
Antwort: Weiter wie
im Abzählreim. Das Negerlein klinkte sich ein als Härchen im Fell. Verdiente
ganz ordentlich. Heiratete.
Frage: Und worin
bestand Ihre Arbeit?
Antwort: Früher, da
gab es so eine Gepflogenheit, wissen Sie: Wenn ein König begraben wurde, hat
man an seinem Sarg auch gleich seine Lieblingskebse, seinen Mundschenk, seinen
Pferdeknecht, seinen Falkner, seinen Beschließer und seinen Koch ins Jenseits
befördert. Kurz gesagt: alle, die für sein Wohlsein gesorgt hatten. Den Kindern
in der Schule erklärt man es so, dass ein König auch im Jenseits nicht auf
Bequemlichkeiten verzichten möchte. Aber es gibt ja gar kein Jenseits, und
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