Schischkin, Michail
sich
Gott weiß wer - wo man hintritt, steht: S. P. Q. R. Senatus
Populus Que Romanus. Aus dem Deckel im Kopfsteinpflaster steigt ein dicker,
schwerer Dampf, der die von Rollern verstellte Straße zuschmiert. Da klafft
eine Lücke in der Straßenlandschaft. Ein Riss. Oder hat man diesem Rom schon
Löcher in den Bauch geguckt?
Über den
Köpfen schwebt der Zeigestock eines Stadtführers mit einem rosa Tüchlein daran.
Der Dolmetsch folgt ihm. Der Stock führt ihn zur Piazza Barberini. Mitten auf
dem Platz ein Triton, der in eine Muschel pustet, er bläst die Backen auf,
hinter jeder steckt eine Apfelsine. Die Fontäne hat einen glatten
Mittelscheitel. Hier wurden früher einmal Tote zur Identifizierung ausgelegt.
Das Wasser plätschert auf das Pflaster.
Gerüche
und Geräusche sind römisch, aber die Farbe der Häuser ist ganz Moskauer Art.
Die alten, einzeln stehenden Häuser in der Siwzew Wrashek zum Beispiel mit dem
blätternden Putz und dem bröselnden Stuck hatten genau diesen warmen,
behaglichen Farbton.
Die Via
Sistina entlang zu Gogol. Auch die Hausnummern sind durchgedreht. Angeordnet in
einer Reihenfolge, wie sie sich nur in Rom denken lässt. Da ist es, Nummer 125.
An der Tür hängen Namensschilder. Jetzt wohnt hier ein gewisser De Leone. Die
Fenster der oberen Etage. Jemand schaut hinter der Gardine vor. Unten der
Eselstall. Wenn Ihr wüsstet, wie freudig ich aus der Schweiz geflohen und in
mein Italien geflogen bin, das geliebte, das schöne - das meine! Das mir
niemand auf Erden wieder nehmen wird! Hier bin ich geboren. Russland, Sankt
Petersburg, der Schnee, die Schufte, die Behörde, der Lehrstuhl, das Theater -
alles nur geträumt!...
Klingeln?
Ein alter Mann öffnet. Als er hört, zu wem der Fremde will, gibt er einstudiert
Auskunft: Gogol sei nicht da, er sei verreist, wann er zurückkomme ungewiss,
und sowieso sei er nach Rückkehr von einer Reise zumeist bettlägerig und
empfange nicht.
Ein
Stadtführer mit Bambusstöckchen über dem Kopf führt die Straße zur Trinitá dei
Monti. Wie eine Motte flattert das angebundene weiße Läppchen über dem
Geschiebe.
Die
Spanische Treppe, gewebt aus Armen, Beinen, Rümpfen, ein lebender Gobelin,
entlaufen aus den Vatikanischen Museen... Ein Schwarzer drängt den Pärchen
seinen Rosenstrauß auf. Aufziehbare Plastiksoldaten kriechen einem um die
Füße, brüllen etwas in ihrer Plastiksprache, zielen und schießen auf geknüllte
Papiertaschentücher, zerquetschte Plastikbecher. Eine alte Frau mit Krückstock
hockt gekrümmt auf einer Marmorplatte, streckt die Hand aus, murmelt etwas, zu
verstehen ist nur prego und mangiare, die
schmutzigen Finger vom Tremor geschüttelt. Sie könnte dem Fußgängertunnel an
der Moskauer Metrostation Elektrosawodskaja entstammen, nur mit zwei
eingepaukten Wörtern Italienisch.
Der
Dolmetsch setzt sich auf die Stufen, blickt hinunter auf die Menge rund um den
Barcaccia-Brunnen, die Via Condotti, deren Ränder wie von einem Brei aus Köpfen
überschwemmt sind. Als stünde irgendwo ein Topf und kochte Köpfe, kocht und
kocht, und keiner ist, der ihm Einhalt geböte: »Töpfchen steh!« - also quillt
der Brei über den Rand, und alle Straßen sind schon überschwemmt.
Der
Dolmetsch schaut auf die wintergrauen Dächer, auf die trüben Dezemberwolken.
Vor ein
paar Jahren hat der Dolmetsch nicht allein auf diesen Stufen gesessen.
Leukippe
und Kleitophon. Pyramus und Thisbe. Dolmetsch und Isolde.
Der
Dolmetsch war hier mit seiner Isolde. Da war ihrer beider Kind gerade ein Jahr
alt, sie hatten es der Großmutter überlassen und waren für ein paar Tage
hierhergeflogen. Es war dringend einmal nötig gewesen, der winzigen Wohnung mit
ihren Säuglingsgerüchen zu entkommen, Isolde zu entführen aus dem gewohnten
häuslichen Trott, der einen unmerklich deprimieren konnte, leise um den
Verstand bringen - weg von Stillplänen, Papierwindeln, Waschmaschinen, Badewannen,
schlaflosen Nächten. Wenigstens für ein paar Tage nicht die geplagten,
unausgeschlafenen Eltern sein, sondern die, die sie zuvor gewesen: Mann und
Frau, die einander lieben.
Es war
spätabends, als sie auf die Spanische Treppe kamen und eine Hochzeitsgesellschaft
antrafen, dasselbe Brautpaar, das sie schon im Lateran gesehen hatten. Die
Nachtbraut saß, noch im Brautkleid, auf den Stufen, spielte Gitarre und sang Yesterday. Der Bräutigam sang, die Gäste sangen. Und die ganze Spanische Treppe
sang mit: »I believe in yesterday...«
Seither
sind nur ein paar
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