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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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die Fensterklappe aufriss. Besoffenes
Geschrei und Hundegebell drangen mit der kalten Luft aus dem Dunkel der Nacht
herein. »Nicht hier, sondern irgendwo am warmen Meer hätte man zur Welt kommen
sollen und in einem ganz anderen Zeitalter, am besten im alten Griechenland, wo
man die Liebe noch liebte, keine Angst hatte, sich zu verlieben, wo das Leben
deftig und natürlich war und nicht deftig und unnatürlich wie hier und jetzt.
Und deftiger als das Leben in euerm Temernik dürfte das Leben in Hellas kaum
gewesen sein!«
    Ich mochte
Tante Olga, weil sie immer so merkwürdige Dinge sagte. Ich wusste, dass Jesus
die Menschen geheißen hat, einander zu lieben. Sie aber beschwerte sich über
das Christentum: »Als ob man im Menschen das eine vom anderen scheiden könnte -
den Leib von Gott! Genauso gut ließe sich behaupten, Blüte und Wurzel wären
zweierlei Geschöpfe!«
    Papa hörte
sich schweigend an, was Tante Olja sagte, ließ nur selten eine Bemerkung
fallen. Einmal, als vom Ursprung der Religion die Rede war, sagte er, am Anfang
sei gewiss nicht die Liebe gewesen, sondern die Jagd: Man musste das Tier
töten, um zu überleben. Also habe, wer auf die Jagd ging, jenen großen und
starken Jäger mitgenommen, der beim Töten eine Hilfe war. »Nicht doch«,
entgegnete Tante Olja. »Gott fing an mit jener Frau, deren Kind krank war, und
keiner konnte helfen, ihr blieb nichts, als die Hände gen Himmel zu heben und
zu beten.«
    Während
ich Tante Olja zuhörte, wanderten meine Gedanken zum Stadtrand hin, wo die
Werkstätten der Wladikawkaser Eisenbahnen waren: stinkende Kneipen, überall
Schnapsleichen, die in ihrem Erbrochenen lagen oder im Blut. Vor den Türen der
Lokale Frauenkreischen, verbissene, besoffene Schlägereien. Von alledem - den
Flüchen, dem Schmutz, den Leuten - ging Trostlosigkeit aus, Elend, Aberwitz.
Dagegen behauptete Tante Olja, man müsse mit der Welt wie in den Flitterwochen
leben, sich täglich neu ins Leben verlieben, denn liebend begegne man den
Dingen, als sähe man sie zum ersten Mal. »Ein Leben lang im Honigmond«,
schärfte Tante Olja uns ein. »Sich mit allem vermählen: jedem Baum, dem
Himmel, den Büchern, allen Menschen auf der Welt, der schönen Blume - und mit
der kalten Luft, die zum Fenster reinkommt, auch!«
     
    Mein
hochwerter künftiger Ex-Nabuccosaurus!

Hurra! Ich
bekam eine Postkarte von Euch! Wie tröstlich der Anblick Eurer Handschrift für
den, der im Königreich hinter den sieben Bergen, in der Hauptstadt der
Hauptstädte weilt. Zu erfahren, dass bei Euch alles in Ordnung ist. Es betrübt
den Dolmetsch freilich ungemein, dass Ihr keine Lust habt, zur Schule zu gehen.
Aber sagt selbst: Wer hat die schon? Dafür hat man später etwas, woran man sich
erinnert.
    Auch wenn
man das übrigens gar nicht will - es geschieht von allein. Glaubt mir. Das ist
so mit allem Vergangenen.
    Nehmen wir
zum Beispiel jene Galpetra, die ich in einem der früheren Sendschreiben
erwähnte. So viel Zeit ist vergangen - ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt
-, doch sie kommt mir beständig in die Quere.
    Ich weiß
nicht, wie es bei Euch in der Schule um die Disziplin steht, aber bei uns, in
Galpetras Stunden, herrschte immer eine mustergültige Stille. Und das, obwohl
man sie an den Klotüren nackt, mit Schnurrbart und schweren Titten gezeichnet
finden konnte - ein Akt kindlicher Rache. Mehr traute sich keiner.
    Beliebt
war sie jedenfalls nicht, weder bei den Kindern noch bei den Lehrern.
    Galpetras
Lieblingsheld war Janusz Korczak. Hatten wir etwas angestellt, und sie las uns
die Leviten, kam sie früher oder später auf Korczak. Und wurde eine ganz andere
dabei, das Brüllen hörte auf, selbst die Stimme veränderte sich. »Wie hätte er
die Kinder allein im plombierten Waggon in die Gaskammer fahren lassen sollen?«
Dabei erzählte sie immer dasselbe, mit den gleichen Sätzen. Alle kannten es
auswendig. Und jedes Mal traten ihr Tränen in die Augen, wenn sie zu der Stelle
kam: »Und so geschah es am fünften August neunzehnhundertzweiundvierzig, dass
Janusz Korczak seine Waisenhauskinder auf die Straße führte. Sie reihten sich
zur Kolonne, entrollten die grüne Fahne des König Macius und machten sich auf
ihren letzten Weg. Korczak selbst lief, zwei Kinder an den Händen, voran.« Und
das Ende ging so: »Wisst ihr überhaupt, für wen er das Leid auf sich nahm? Sein
Leben hingab? Für euch! Ihr aber...« Kam ihr irgendein belesener Schlaumeier
damit, dass Korczak gar nicht Korczak,

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