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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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stellte sie verblüffende
Fragen. »Was wäre dir lieber: ein gutes Essen von hässlichem Geschirr zu essen
oder eins, das nicht schmeckt, von schönem?«
    Eines
Abends nach dem Essen trage ich die für die Schule auswendig gelernte Fabel Die Grille
und die Ameise vor, mit verteilten Rollen. Im Vorgefühl dessen,
dass gleich alle applaudieren und meine schauspielerischen Talente feiern
werden, schwinge ich mich auf zur letzten Pointe. Den belehrenden Zeigefinger
zur Decke streckend, deklamiere ich: »So, du sangst? Dann tanze jetzt!« Aber
Tante Olja wartet das Ende gar nicht ab, springt auf und fällt mir ins Wort:
»Alles falsch! Alles ganz anders, Bellalein!«, ruft sie und setzt mir
auseinander, wie man den Sinn der Fabel recht zu verstehen hat. »Die Grille ist
lustig und nett, sie hat so gelebt, wie man dieses Leben unbedingt leben
sollte: fröhlich sein und singen, sich am blauen Himmel ergötzen und an der
lieben Sonne, selbstlos sein und auf die Selbstlosigkeit anderer hoffen! Sie
hat der Schönheit gedient, verstehst du? Die Ameise hingegen ist ein
Nichtsnutz, geizig wie alle Reichen, spießig und gemein!«
    Tante Olja
brachte uns das Tagebuch der Bashkirtseff mit. Es war beinahe eine Art Bibel
für sie, abendelang las sie uns daraus vor. Was die
Menschen sich ihrer Nacktheit schämen lässt, ist, dass sie sich nicht für
vollkommen halten. Wäre man sicher, dass man weder einen Fleck auf der Haut
noch einen schlecht ausgebildeten Muskel noch missgestaltete Füße hätte, so
würde man unbekleidet einhergehen, ohne sich zu schämen... Darf man zögern,
etwas Schönes zu zeigen, worauf man stolz sein kann? Sie sei in
der Schweiz gewesen, erzählte Tante Olja, am Luganer See, und habe dort ein
paar Wochen in einer Kolonie gelebt, wo alle nackt herumgelaufen seien -
Männlein und Weiblein. Im Weiteren empörte sie sich darüber, dass nicht einmal
in der Kunst die männlichen Genitalien abgebildet würden, wegen angeblicher
Anstößigkeit, dabei handele es sich um das Allerheiligste. Das Mysterium des
Daseins und der Sinn des ganzen Weltenbaus! Jesus Christus, so führte sie aus,
sei nackt ans Kreuz geschlagen worden, wie bei einem verurteilten Sklaven
üblich, erst später haben die Popen alle wahrheitsgetreuen Kruzifixe
vernichtet und Christus bekleidet!
    Unsere
alte Njanja hörte durch die offen stehende Tür mit. »Dass du dich nicht
schämst!«, kommentierte sie erbost und spuckte aus. Sie mochte Tante Olja nicht
und solche Reden schon gar nicht, sie seien für uns verderblich, meinte sie.
    Auch Mama
missfielen diese Gespräche, aber einfach hinausgehen, ohne etwas zu sagen,
mochte sie auch nicht, versuchte zu widersprechen: »Olja, was erzählst du bloß
wieder! Es gibt doch eine natürliche Scham, dem Menschen sind von Natur aus
Grenzen gegeben, die das Untere vom Oberen scheiden, und es gibt letzten Endes
moralische Schranken, geheiligt durch tausendjährige menschliche Erfahrung,
durch Gesetze, Religion, letzten Endes!«
    Erregt
sprang die Tante auf, lief im Zimmer auf und ab und setzte zu einer Beweiskette
an: Von alters her, in allen Religionen habe das als vollkommen natürlich
gegolten, sei sogar ins Zentrum der Verehrung gestellt worden, im Altertum
habe es den Priapos-Kult gegeben, ein Gott sei das gewesen! - und erst das
Christentum habe alles auf den Kopf gestellt, weil es das, was lebendig sei,
nicht ertragen könne, und überhaupt sei es eine Religion des Todes und von
daher gar nicht lebensfähig, bald sterbe es von ganz alleine ab, sei schon halb
tot... »Man muss doch bloß mal in die Bibel gucken«, ereiferte sich Tante Olja,
»selbst dort bezeichnet man es als das Heiligste, um darauf zu schwören, und
greift dabei richtig hin. Als Abraham seinen Diener losschickt, eine Frau für
Isaak zu suchen, da sagt er zu ihm: >Lege deine Hand unter meine Hüfte und
schwöre mir bei dem Herrn, dem Gott des Himmels und der Erde.< Und also
legte der Knecht seine Hand da hin und schwur! Da könnt ihr mal sehen!«
    Das alles
sprach Tante Olja zu meinen großen Schwestern, aber ich saß eingerollt im
Sessel dabei und merkte es mir gut. Ich schwärmte für sie, und zugleich tat sie
mir leid, denn wie die Schwestern sagten, war sie, trotz vielerlei Affären,
allein. Tante Olja war einmal verheiratet gewesen, doch dann starb ihr Kind.
Sie verließ ihren Mann und blieb fortan ohne Familie.
    »Und
sowieso sind wir am falschen Ort geboren«, fuhr Tante Olja fort, während sie
sich eine Papirossa anzündete und

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