Schischkin, Michail
ihr Studium am
Konservatorium und dass der Krieg in der Hauptstadt überall zu merken ist. Im
Mariinski-Theater werden vor jeder Vorstellung die Hymnen der alliierten Mächte
abgespielt. Erst die russische, dann die Marseillaise, dann God Save
The King. Wie lange man da wohl stehen muss? Wagner und überhaupt
alle Deutschen haben sie ganz aus dem Repertoire genommen. Und in den großen
Geschäften hängen neuerdings Schilder: Bitte nicht deutsch sprechen! Sogar in
der deutschen Abteilung der Öffentlichen Bibliothek gibt es jetzt diesen
Aushang: Bitte kein Deutsch! In der Straßenbahn, mit der Njusja
zum Konservatorium fuhr, hat irgendein alter Herr in gewollter Jugendlichkeit
einer Dame seinen Platz angeboten und aus alter Gewohnheit auf Deutsch »Bitte,
nehmen Sie Platz!« gesagt. Den haben sie gleich aus der Bahn geworfen! Wie
grauenvoll!
8. Oktober
1914. Mittwoch
Die Welt
dreht durch! Erst letzte Woche lasen wir in der Zeitung, in Petrograd habe
sich eine Gymnasiastin mit einer Ikone in den Händen aus dem Fenster gestürzt.
Und heute haben wir bei strömendem Regen, unter Schirmen, Dmitri Poroschin aus
dem Belowolski-Knabengymnasium beerdigt, den Sohn eines Untersuchungsrichters.
Er hat sich mit seines Vaters Revolver erschossen! Ljalja behauptet, er wäre
in die Geliebte seines Vaters verknallt gewesen. Was man doch aus dem Munde
unserer höheren Töchter für Unsinn hören kann!
10.
Oktober 1914. Freitag
Die Liebe
ist eine Verräterin. Sie kratzt euch bis aufs Blut wie eine Katze, auch wenn
ihr nur mit ihr spielen wolltet. Ninon de
Lenclos Wo Tala das nur immer alles herhat!
Die
Nasarow-Zwillinge sind heimlich an die Front gegangen. Sie haben einen Brief
dagelassen. Und an wen? An Tusja natürlich! Sie fand ihn unter ihrer Bank und
war schrecklich stolz. Bevor sie ihn zur Direktorin brachte, hat sie ihn in der
Pause allen vorgelesen. Sie wollen entweder unter einem Eichenkreuz begraben
sein oder mit dem Georgskreuz an der Brust heimkehren, schreiben die Brüder.
Tusja ist
vor Stolz beinahe geplatzt!
14.
Oktober 1914. Dienstag
In der
Pause habe ich mit anderen Mädchen aus dem Fenster zugesehen, wie Talas Bruder
Shenja Martjanow unten auf dem Hof Barrenübungen machte. Womöglich ist er es,
der überall meine Initialen einritzt? Ach, Unsinn. Aber heute am Fenster hatte
ich irgendwie Gänsehaut an Armen und Beinen.
Shenja ist
so geschickt in den Stand gesprungen wie ein Zirkusathlet, hat sehr schön die
Arme ausgebreitet und stolz zu uns heraufgesehen. Die Mädchen haben ihm Beifall
geklatscht. Ich bin rasch vom Fenster zurückgetreten, weil ich dachte:
Vielleicht hält er nach mir Ausschau? Hab die Nase ins Buch gesteckt. Darin
ging es um Cicero.
Den halben
Abend habe ich mich im Spiegel beguckt. Zu Hause behaupten sie alle, ich wäre
eine Schönheit, aber was muss ich sehen: eine Kartoffel anstelle der Nase,
Pausbacken, grässliches Kinn, hässliche Stirn. Und erst die Augen! Diese
Wimpern! Diese Brauen! Alles so jämmerlich unvollkommen! Wie soll einer das
lieben und begehren? Und dann noch dieser bescheuerte Unterricht. Wozu brauche
ich Cicero, mein Gott! Das Forum! Was geht mich das alte Rom an? Und Numa
Pompilius, was soll mir der?
19.
Oktober 1914. Sonntag
Wir waren
zur Messe. In der Kirche sah ich die Mutter der Nasarows. Sie kniete auf dem
Boden. Kam hinterher nicht hoch, man musste ihr aufhelfen. Sie tut mir so leid.
Von den Zwillingen gibt es keine Nachricht.
22.
Oktober 1914. Mittwoch
Am
Gymnasium fand ein Bittgottesdienst zu Ehren der Kasaner Gottesmutter statt.
Gebetet wurde für die Befreiung Russlands von den Deutschen so wie damals von
den Polen. Ich fand es peinlich, wie unsere Mädchen die ganze Zeit die Köpfe
zusammengesteckt und geschwätzt haben über Gott weiß was. Alle sind sie
ständig neu verliebt und zeigen einander gegen Schweigegelübde ihre Tagebücher,
worin steht: Seit heute bin ich nicht mehr in N. verliebt, sondern in X. Dazu
nicht bloß das Datum, sondern die genaue Zeitangabe. Was sind das bloß für
Kinder!
Ich zeige
keinem etwas. Dieses Tagebuch ist einzig für mich da und für niemanden sonst.
Vielleicht, dass ich es mal jemandem zeige, den ich wirklich liebe. Bei Tala
und Ljalja und denen allen ist es doch keine wahre Liebe! Wahre Liebe geht
anders!
Vorhin
habe ich wieder die Maria Bashkirtseff vom Bord genommen und in der Mitte
aufgeklappt, eine meiner Schwestern hat dort etwas mit Bleistift angestrichen: Ich ähnele
einem geduldigen,
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