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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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die
anderen.
    Am Abend kam
Viktor vorbei. Auch er angesteckt von der allgemeinen Raserei. Zwar hat man
ihn nicht einberufen, weil er der einzige Sohn in der Familie ist, doch er
glüht vor Patriotismus und hat sich als Freiwilliger zur Reserve gemeldet,
Stufe eins. Vollkommen unmöglich, ihn sich im Felde vorzustellen, bei einem
Angriff, halb blind und unbeholfen, wie er ist. Er steckte schon in Uniform:
Feldbluse, Stiefelhosen, Mantel und Käppi. In Soldatenkleidung tatsächlich kaum
von denen zu unterscheiden, die da immer in Reih und Glied von dannen ziehen.
Er sagt, seine Mutter sei sehr beunruhigt, weil er als niederer Rang in den
Soldatenkasernen wohnen müsse.
     
    25.
November 1914. Dienstag
    Gewisper
vor meiner Tür. Mama zu Vater: Mit mir stimme etwas nicht, ich sitze schon den
dritten Tag und lese in der Bibel. Wenn einer die Bibel liest, heißt das ja
wohl noch nicht, dass er krank ist!, erwiderte Vater gereizt. Mama zischte
etwas Ungehaltenes und kam herein, setzte sich vor mich, legte mir die Lippen
an die Stirn und sagte, ich solle doch nicht immerzu zu Hause sitzen, müsse
auch einmal an die frische Luft, spazieren gehen. Ich aber schüttele nur den
Kopf und warte, dass sie wieder geht, damit ich die Stelle wieder lesen kann,
wohl zum hundertsten Mal. Als könnte man sich davon losreißen: Ich
schlafe, aber mein Herz wacht. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft:
Tu mir auf, liebe Freundin, meine Schwester, meine Taube, meine Fromme! Denn
mein Haupt ist voll Tau und meine Locken voll Nachttropfen.
     
    27.
November 1914. Donnerstag
    Heute habe
ich für die Verwundeten gesungen. Nach dem Unterricht gingen Ljalja, Tala und
ich ins Hospital in unserer alten Schule. Wir liefen durch die Klassen, die
jetzt Krankensäle sind, und fragten, ob wir für irgendwen Briefe nach Hause
schreiben sollen. Manche Soldaten freuten sich, baten Platz zu nehmen, ließen
uns nicht gleich wieder gehen. Anderen war es im Gegenteil peinlich, sie zogen
sich zurück. Einer ist an der Harnblase verletzt, kann schlecht gehen und nur
mit Flasche. Ich sah, dass die Flasche voll war, wollte sie ihm abnehmen und
zur Toilette bringen, er errötete und ließ es nicht zu. Was wiederum mir
peinlich war. So was Dummes. Was ist denn Peinliches dabei!
    In jedem
Krankenzimmer wurde ich aufgefordert zu singen. Meine Stimme heile ihre Wunden
besser als jede Medizin, behaupteten sie!
    Ein
rothaariger Bursche hat beide Hände verloren. So ein Spaßvogel, den man gern hat,
der alle um sich her in einem fort zum Lachen bringt. Stolz berichtete er von
der Zerschlagung des österreichischen Heeres und dass die gebürtigen Slawen
unter den Österreichern gar keine Lust zum Kämpfen zeigen, kompagnieweise
freiwillig in Gefangenschaft gehen. Wir fütterten ihn mit dem Löffel, er konnte
ja nicht alleine essen.
    Als er
dann noch erzählte, wie er bei sich zu Hause Welse angelte - »Solche Riesen!«,
sagte er und spreizte die abgebundenen Stümpfe -, da konnte ich gerade noch an
mich halten. Jetzt aber nicht mehr. Ich schreibe und heule.
    Shenja sah
ich heute nicht. Was, wenn er mich nicht mehr liebt? Oder habe ich mir das
alles überhaupt nur ausgedacht?
     
    2.
Dezember 1914. Dienstag Heute! Ist es passiert! Er hat mich geküsst!
    Ich holte
Tala ab wie üblich, wir wollten zusammen ins Lazarett. Ich war etwas zu früh.
Gar nicht absichtlich, es ergab sich. Shenja war allein zu Hause. Er fragte, ob
ich die Kristalle noch mal sehen wolle. Ich trat ans Fenster, da hat er mich
von hinten umarmt. Und geküsst: auf den Hals, auf das Ohr und auf die Wange!
    Aber
ich... könnte mich in den Arm beißen! Hab nur blöd vor mich hin gestarrt und
kein Wort herausgebracht! Wie versteinert! Keine Hand konnte ich rühren und
keinen Fuß. Meine Augen hingen an dem blöden Kupfervitriol wie festgeklebt! Im
Kopf nur der eine Gedanke: Mein Gott, jetzt küsst er mich, und ich stehe da wie
behämmert! Dabei hätte ich mich so gerne umgedreht, die Arme um seinen Hals
gelegt und ihn wiedergeküsst! Auf den Mund! Und am liebsten auch noch auf die
Narbe an seinem Jochbein, keine Ahnung, warum - aber ich konnte nicht!
    Und dann
ging unten die Haustür. Tala! Ich riss mich los und eilte aus dem Zimmer, sie
hat nichts mitbekommen.
    Wir gingen
ins Lazarett. Tala schwätzte irgendwas, ich hörte nicht hin und hatte keine
Augen für gar nichts. Alles in mir klang, es zerriss mich fast vor Glück. Ich
konnte das törichte Lächeln auf meinem Gesicht spüren.
    Und jetzt
ist

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