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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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unermüdlichen Chemiker, der nächtelang über seinen Retorten
hockt, um nur ja nicht den ersehnten Augenblick zu verpassen. Mir scheint, es könnte
jeden Tag geschehen; ich denke nach und warte... Sorgenvoll frage ich mich
immer wieder: Ist es so weit?
    Genauso
horche auch ich immerzu in mich hinein: Ist es so weit?
    Anscheinend
nicht... Nein. Nein!
    Unten am
Rand der Seite hat wer dazugeschrieben: Liebe ist das größte Glück, das es
gibt. Selbst unglückliche Liebe. Es ist Maschas Handschrift. Ist
ihre Liebe zu Boris etwa unglücklich? Was wäre ich froh, auch nur ein
Zipfelchen davon zu haben. Wie sehr ich sie beneide!
     
    29.
Oktober 1914. Mittwoch
    Maniküre
ist jetzt am Gymnasium die neueste Mode: Alle schnippeln an ihren Nagelhäuten
herum, lassen sich lange Nägel wachsen, feilen sie schön zurecht. Ich habe so
hässliche Hände!
    Gestern
ging in der Klasse das Licht kaputt, der Elektriker musste kommen. Er schleppte
eine lange Klappleiter an, kletterte bis unter die Decke, hantierte dort oben -
und ich merkte auf einmal, wie die Mädchen vor ihm schöntaten und kokett. Wie
ich das verachte! Und alles nur, weil ein junger Mann in der Klasse war!
     
    31.
Oktober 1914. Freitag
    Die
Eugenie ist krank, und wahrscheinlich ist es etwas Ernstes, weil Boris' Vater
für sie den Deutschunterricht übernommen hat. Ich habe ihn schon früher einmal
gesehen, als ich mit Mascha bei ihnen zu Besuch war. Damals fand ich ihn sehr
lustig und sympathisch, er hat ausgiebig Fruchtbonbons spendiert. Vor der
Klasse ist er ein ganz anderer: mürrisch und unzugänglich. Deutsch haben wir
sowieso schon gehasst, wegen der Eugenie und wegen des Krieges, und jetzt kommt
noch dazu, dass man ihm den Namenswechsel verübelt, von Müller zu Melnikow.
Alle sehen darin nur Feigheit und Karrierismus. Nach dem Unterricht in der
Garderobe sagten die Mädchen hässliche Dinge über ihn, äfften ihn nach, wie er
uns die deutsche Aussprache beizubringen versucht. Es stimmt, er hat schlechte,
schief stehende Zähne, aber muss man den Mann deswegen verhöhnen? Ich spürte
auf einmal einen solchen Zorn in mir! Was sind das für Freundinnen! Ein Schwarm
gehässiger Krähen! Und laut und deutlich hörte ich mich sagen: »Er hat den
Namen nicht aus Feigheit gewechselt, sondern weil er sich für seine Nation
schämt!« Da wurde es still. Alle schauten mich an. Ich drehte mich um und ging.
Auf der Straße wurde mir mit einem Mal furchtbar schlecht. Ich bekam Angst, sie
könnten mich von nun an boykottieren. Aber zu Hause überkam mich noch eine ganz
andere Angst - die Angst vor der Angst. Bin ich denn wirklich so kleinmütig,
dass ich mich fürchte, allein dazustehen? Dafür schäme ich mich bodenlos. Ich
bin wie die anderen, jawohl. Um keinen Deut besser. Sogar schlimmer. Denn deren
Spott über den Lehrer kam von Herzen, während ich erst für ihn eintrat und
hinterher darüber erschrak.
    Außerdem
habe ich den Eintrag von Mittwoch noch einmal gelesen. Wie komme ich dazu, mich
so über andere zu verbreiten, Verachtung zu äußern, wo ich doch nicht besser
bin? Wer sagt denn, dass ihre Koketterie den Elektriker meint? Um den geht es
nicht! Sie wollen überhaupt gefallen, sich die Menschen um sich her gewogen
machen. Sie möchten, dass alle Welt sie liebt! Auch noch der letzte Elektriker!
Und so bin ich auch. Wie furchtbar!
     
    4.
November 1914. Dienstag
    Heute war
ein prächtiger Sonnentag. Ich habe Tala zum Spazierengehen abgeholt. Sie
musste sich erst noch umziehen und ließ sich dafür wie immer viel Zeit, beinahe
eine geschlagene Stunde. Während ich auf sie wartete, steckte Shenja den Kopf
aus seinem Zimmer und rief mich zu sich hinein. Ich folgte der Einladung, und
er zeigte mir die Kupfervitriolkristalle, die er seit zwei Monaten auf dem
Fensterbrett gezüchtet hat. Wahre Edelsteine! So etwas habe ich noch nie
gesehen! Shenja ist schon ein erstaunlicher Kerl. Dann kam endlich Tala
herunter, und wir konnten losgehen.
    Und nun
liege ich im Bett und kann nicht einschlafen, muss immerzu an ihn denken. Sehe
seine Augen vor mir, die kräftigen, muskulösen Arme, die schlanken Beine in den
Kniestrümpfen. Er hat schöne Hände, trotz der Verbrennungen von den Reagenzien.
Und am Jochbein hat er eine Narbe - sie stammt von einem Schlagring. Er hat
sich im Park von Nowoposjolki mit Temerniker Rowdys angelegt. Er ist stark und
unerschrocken!
    Dieses
Gefühl... Das wird es doch nicht sein? Doch nicht etwa er? Nein, nein, nein.
    Heute
morgen auf dem Weg ins

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