Schischkin, Michail
Gymnasium habe ich an der Ecke Taganrogski wieder die
verrückte Alte mit dem Häubchen gesehen. Sie kann den Harn nicht halten, es ist
grauenvoll. Steht da und macht unter sich eine Pfütze. Und plötzlich spricht
sie mich an. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«, fragt sie mit Totenstimme.
Die hallt mir noch jetzt in den Ohren. Alt zu werden muss schrecklich sein!
11.
November 1914. Dienstag
Eine ganze
Woche lang habe ich hier nichts eingetragen, weil nichts passiert ist.
Aber heute
hat unsere Joujou etwas verzapft!
Nach dem
Unterricht hat sie im Chemiekabinett ein großes Karbolsäurekristall geschluckt!
Wer hätte das gedacht von unserem grauen Mäuslein?! Ein romantischer
Selbstmord sieht aus der Nähe alles andere als romantisch aus. Die arme Joujou
wälzte und krümmte sich in ihrem Erbrochenen, beschmiert von oben bis unten:
Kleid, Schuhe, Strümpfe, selbst die Bänder in den Haaren. Man konnte die
Nudeln erkennen, die sie gegessen hatte, es war widerwärtig! Man brachte sie in
Papas Klinik zur Magenspülung.
Großes
Rätselraten: Wer ist derjenige, welcher? Joujou ist so verschwiegen!
Es gibt
drei Typen von Frauen: Köchinnen, Gouvernanten und Prinzessinnen.
12.
November 1914. Mittwoch
Selbst
heute roch es in der Klasse noch nach Joujou, obwohl die ganze Nacht gelüftet
worden war. Ihr geht es gut. Wahrscheinlich wird man sie auslachen, wenn sie
wieder auftaucht! Die Arme. Und verliebt ist sie angeblich in Shenja Martjanow.
Meinen Shenja! Ich weiß nicht, ob ich es glauben soll. Ljalja behauptet es,
aber vielleicht will sie mich bloß fuchsig machen? Das sähe ihr ähnlich. Und so
was nennt sich beste Freundin!
Schrieb
ich: meinen Shenja? Wieso eigentlich?
Im
Unterricht betrachtete ich die ausgestopften Tiere in den Wandschränken, die
Gläser mit den in Spiritus eingelegten Fröschen, die idiotischen Büsten aus
Pappmaschee, welche Vertreter unterschiedlicher Rassen darstellen sollen: ein
Chinese, ein Inder, ein Neger... Und auf einmal dachte ich: Alles ganz einfach.
Ich bin vermutlich ein Krüppel. Unfähig zu lieben, wie es aussieht. Ich kann's
einfach nicht. Alle können es, bloß ich nicht. Man wird mich wohl genauso
ausstopfen wie diese Viecher, als Ausstellungsstück. Wer liebt schon so eine?
Gewiss keiner.
17.
November 1914. Montag. Weihnachtsfastenzeit Der erste Schnee. Und was für
welcher! Ganz Rostow ist eingeschneit.
Ich musste
den Wintermantel anziehen, der, wie sich zeigt, übers Jahr zu eng geworden ist.
Heute
wurde ich nach Schulschluss noch aufgehalten, alle Mädchen waren schon weg, und
wie ich auf den Hof trete, ist da eine Schneeballschlacht der Realschüler im
Gang, und ich muss mittendurch. So ganz allein, das war zum Fürchten. Ich
tapfer losgelaufen. Kriege einen Schneeball an die Schulter! Dazu gemeines
Gelächter. Bloß nicht umdrehen!, denke ich. Zähne zusammengebissen und
weitergegangen. Da höre ich es hinter mir trappeln. Einer kommt mir
nachgerannt. Es ist Kosljaninow aus der obersten Klasse. Als er heran ist,
brummt er: »Verzeihen Sie bitte.« Ich war so baff, dass ich nicht wusste, was
ich sagen sollte. Danach bekam ich gleich gute Laune! Schwebte nach Hause,
stellte mich, angezogen wie ich war, vor den Spiegel. Rote Wangen, glühende
Augen. Meine Augen sind wirklich wunderschön! Ich glaube, ich bin doch ganz
hübsch!
Die Njanja
wollte maulen von wegen, ich hätte so viel Schnee reingebracht - ich hab sie
einfach geküsst!
22. November
1914. Samstag
Alle
sagen, einen so zeitigen Winter hätte es noch nie gegeben.
War mit
Shenja eislaufen. Er trug meine Schlittschuhe, schnürte mir gar noch die
Stiefel. Welche Wonne! Beim Laufen hielten wir uns bei den Händen. Alles
schaute. Mehrmals fuhren wir an Joujou vorüber. Jedes Mal tat sie, als sähe sie
uns nicht! Anschließend saßen wir noch auf einer Bank. Shenja erzählte lustige
Sachen über seine Mitschüler. Was hab ich gelacht!
Was ist
das? Was ist mit mir? Bin ich verliebt?
Kaum
hingeschrieben, jagt das Wort mir einen großen Schreck ein. Verliebt.
23.
November 1914. Sonntag
Ja, mir
scheint, es ist so weit. Ich bin verliebt. So lange habe ich darauf gewartet,
dass ich es nicht zu glauben wage. Kann das wirklich wahr sein? Ach, ich will
mir lieber nichts vormachen. Das ist alles noch nicht richtig echt. Nein!
Heute habe
ich Shenja nur von Weitem gesehen. Er sah zu mir herüber. Lächelte. Natürlich
liebe ich ihn! Ich! Liebe! Ihn! Shenja ist so besonders! Gar nicht wie
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