Schischkin, Michail
Wirkung, man muss immerzu hingucken, ob man will oder nicht.
Papa
arbeitet jetzt auch noch in der Stadtverwaltung, kümmert sich um die
Evakuierten, den ganzen Tag ist er unterwegs. Heute war ich mit ihm in der
Irrenanstalt. Während er dort irgendwen abkanzelte, schaute ich einer
Hilfsschwester zu, wie sie den Boden wischte, es roch streng nach Chlor, und
neben ihr stand ein Patient, der aber ganz normal aussah, mit intelligentem
Gesicht. Auf einmal ergriff er die Hände der Frau, die schmutzig von dem Lappen
waren, und küsste sie. Ich war verblüfft.
Eben ist
dieser Kuss mir wieder eingefallen, und mir wurde ganz anders. Es muss
furchtbar sein, so die Kontrolle über sich zu verlieren. Sich selbst zu
verlieren. Behüte Gott, dass ich nicht eines Tages einen Tagebucheintrag mit
»zigster Märzember« beginne.
12. Dezember
1914. Freitag
Heute ist
im Lazarett etwas Grässliches passiert. Ich schrieb für Jewrjushichin, den
erblindeten Mann mit dem dicken Augenverband, einen Brief in sein Dorf, an die
Eltern und die Braut. Wir saßen auf dem Korridor am Fenster. Er bat darum,
meine Hand berühren zu dürfen, streichelte sie mit seinen festen, erdigen Fingern.
Dann wanderten die Finger nach oben, und plötzlich griff er mir an die Brust.
Ich erschrak und war völlig konsterniert, während er versuchte, mich zu
umarmen und an sich zu pressen. Ich war nahe daran zu schreien, hielt aber an
mich. Schüttelte seine Hand ab, sprang auf und rannte weg. Auf der Straße
überkam mich die Scham. Gern hätte ich Shenja davon erzählt, aber das ging
nicht. Mir wurde auf einmal klar, dass es Dinge gibt, die man unmöglich
jemandem erzählen kann.
13. Dezember
1914. Samstag
Ich bekam
von Shenja einen Zettel: Er sei ab vier alleine zu Hause. Bis halb vier hielt
ich es aus, dann düste ich los. Näherte mich dem Haus und starb fast vor Angst,
ich könnte Tala und ihren Eltern in die Arme laufen.
Wir haben
im Dunkeln auf dem Sofa in der guten Stube gesessen und uns geküsst. Jawohl!
Was für
ein Gefühl! Nein, es ist einfach unbeschreiblich! Ich bin glücklich! Wie gut er
küssen kann!
Kaum hatte
ich das geschrieben, war es mit der Ruhe vorbei - ich liege schon die halbe
Nacht wach und frage mich: Bei wem hat er so gut küssen gelernt?
16.
Dezember 1914. Dienstag
In der
Schule haben wir Weihnachtsgaben für die Front gesammelt, Tabaksbeutel,
Taschentücher und so weiter. Mir kam der Gedanke, derjenige, der mein
Taschentuch bekommt, könnte ausgerechnet der Kerl aus Temernik sein, mit dem
Shenja sich geschlagen hat.
Im
Lazarett gibt es einen Verwundeten, dem sie ein Bein abgenommen haben und der
darüber den Verstand verloren hat. Als Mascha ihm seine Krücke brachte, knallte
er ihr das Holzding mit voller Wucht gegen das Bein. Jetzt hat Mascha einen
großen blauen Fleck.
27.
Dezember 1914
Zum ersten
Mal so traurige Feiertage. Ich fühle mich so elend! Die Martjanows sind in die
Ferien gefahren. Zwei Wochen, die ich Shenja nicht sehe!
Ich war
mit den Mädchen im Alexandergarten von Nachitschewan, dort fand ein Volksfest
mit Musik statt. Wir sind Achterbahn gefahren. Massen von Leuten.
Zwischendurch
dachte ich immer wieder: Was soll mir das alles, ohne ihn an meiner Seite?
Am Abend
orakelten wir: Rings an den Rand einer Schüssel mit Wasser klebten wir mit
Kügelchen aus gekautem Brot Zettel, auf denen unsere sehnlichsten Wünsche
standen. Dann wurde eine Nussschale mit einem brennenden dünnen
Opferkerzenstummel zu Wasser gelassen. Das Boot war in Richtung Schüsselrand zu
blasen. Wessen Zettel verbrannte, dessen Wunsch würde in Erfüllung gehen. Noch
dazu musste man Obacht geben, dass man die Kerze nicht ausblies - das brachte
Unglück. Ich schrieb nur ein einziges Wort auf den Zettel, das aber keiner
erfahren darf, weil es sonst nicht klappt. Ich habe überlegt, ob ich es
wenigstens ins Tagebuch schreiben kann. Beschloss jedoch, lieber kein Risiko
einzugehen. Abgemacht war, nur ganz sachte zu blasen, aber dann pusteten wir
doch aus voller Brust, und die Nussschale kenterte. Unser Schiff sank! Wir
lachten und bespritzten uns gegenseitig mit dem Wasser aus der Schüssel. Bis
ich merkte, dass Mascha sich in eine Ecke verkrochen hatte und alleine dasaß,
die Augen voller Tränen. Sie hat natürlich gleich gedacht, es müsste ein schlechtes
Omen sein für ihren Boris, der demnächst in See sticht. Sie tat mir so leid!
Ich ging hin, setzte mich zu ihr, nahm ihre Hand und streichelte sie.
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