Schischkin, Michail
Bilder zu finden. Sie hatte sie ihm schon einmal
gezeigt, doch damals waren sie ihm gleichgültig gewesen, er erinnerte sich
nicht. Jetzt betrachtete er jedes Foto eingehend, um herauszufinden, ob diese
Ähnlichkeit tatsächlich bestand.
Einmal im
Jahr versammelten sich bei ihnen Isoldes und Tristans Freunde zu dessen
Todestag.
Der Zufall
wollte es, dass sich Isolde und der Dolmetsch am Vorabend eines solchen
Treffens wieder einmal einer Bagatelle wegen in die Haare bekommen hatten. Es
wurde sogar Porzellan zerschlagen. Kaum war Isolde aus dem Haus, schaltete der
Dolmetsch ihren Computer an, öffnete die Datei und las: Heute bin
ich ins Kinderzimmer schlafen gegangen. Hörte das Kind im Schlaf schnaufen und
stellte mir vor, es wäre Dein und mein Sohn. Ist es ja auch. Dein Kind, nicht
seines.
Als Isolde
von der Arbeit kam, ging der Dolmetsch zu ihr und umarmte sie, wie er es immer
tat nach einem Streit, um sich zu versöhnen.
»Friede?«,
sagte er, wie sie es immer sagten.
Lächelnd
vergrub sie ihr Gesicht an seiner Brust.
»Danke!
Ich hatte schon Angst, dass es heute zwischen uns so weitergeht.«
»Alles
gut!«, sagte der Dolmetsch und lächelte.
Die Gäste
kamen. Isolde hatte Raclette vorbereitet. Die Stimmung war gelöst, es wurde
viel geredet.
Der
Dolmetsch ging den Sohn zu Bett bringen, las ihm zum Einschlafen noch die
Geschichte vom schlauen Urfin und seinen Holzsoldaten vor. Das Kind hätte
längst schlafen müssen, doch es wollte immer noch mehr hören, und der Dolmetsch
las und las.
Er wollte
ja auch gar nicht zu denen hinaus.
Schließlich
war der Sohn eingeschlafen, der Dolmetsch löschte das Licht, lag in der
Dunkelheit und lauschte auf das Schnaufen des Kindes.
Als er
hinauskam, waren sie schon beim Dessert. Das Gespräch drehte sich um Russland,
Tschetschenien. Der Zahntechniker zwackte sich eine Weintraube ab und fragte
den Dolmetsch, wie ein Mensch fühlt, der nicht zu einem kleinen Volk wie den
Schweizern oder Tschetschenen gehört, sondern zu einer großen Nation von... -
hier stockte er - Invasoren wäre das falsche Wort, auch nicht Unterdrückern,
sondern, wie solle er sagen - er drehte die Beere zwischen den Fingern und fand
das passende Wort nicht, dabei sah er den Dolmetsch lächelnd an, als erwartete
er Hilfe.
»Du
meinst, wenn man zu den Russen gehört«, half er.
Der
Techniker lachte und warf sich die Weinbeere in den Mund. Kauend riss er die
nächste ab.
»Du
verstehst doch, was ich meine!«
»Natürlich.«
Der
Dolmetsch verteilte den Rest Wein aus der Flasche und ging in die Küche, die
nächste zu holen. Als er wiederkam, brachte er die Rede auf die Videos, die die
Tschetschenen zu drehen pflegten. Jemand hatte ein paar kurze Ausschnitte im
Fernsehen gesehen. Befreundete Journalisten aus Moskau hätten ihm eine Kassette
geschickt, sagte der Dolmetsch.
»Du wirst
doch nicht etwa!«, fiel ihm Isolde ins Wort.
Der
Dolmetsch zog sie an sich und küsste sie auf den Hals.
»Natürlich
nicht.«
Aber die
Gäste bedrängten ihn.
»Ach,
zeigt doch mal!«
Der
Dolmetsch suchte sie davon abzubringen: Besser nicht, diese Aufnahmen seien aus
gutem Grund von keinem Sender gezeigt worden, nicht mal in Russland.
»Noch ein
Grund mehr, sie zu zeigen! Bitte!«
Besonders
der Zahntechniker wollte unbedingt sehen, was er nicht sehen sollte.
Der
Dolmetsch trug die Teller in die Küche, Isolde kam ihm nach und sagte leise,
sodass es nebenan keiner hören konnte: »Warum willst du mir den Abend
verderben?«
»Ich? Wie
kommst du darauf?«, antwortete der Dolmetsch.
Am Ende
steckte die Kassette im Rekorder, alle setzten sich zurecht, und der Dolmetsch
schaltete ein.
Zuerst
äußert jemand flehentlich die Bitte, ihn freizukaufen: ein Soldat,
offensichtlich ein Gefangener, ganz jung noch, schmutzig und ausgezehrt; dann
wird ihm ein Finger abgeschnitten, und er wimmert nur noch. Der Finger wird
ausgiebig vor das Objektiv gehalten.
Danach
hält irgendein Ausländer, der englisch spricht, ein Schraubglas mit einer
dunklen Flüssigkeit in die Kamera, es ist sein blutiger Urin, man habe ihm die
Nieren kaputt geschlagen, klagt er und kriegt im nächsten Moment von hinten
eine Stahlrute übergezogen, er zuckt und schreit.
Isolde
schaute nicht zu, sie war zum Rauchen auf den Balkon gegangen.
Nach den
ersten Bildern stand einer der Gäste auf und folgte ihr hinaus.
Dem
gefangenen Soldaten soll die Kehle durchgeschnitten werden. Er sucht sich
loszureißen, röchelt: »Nicht! Nein!« Kippt nach
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