Schischkin, Michail
»Mascha,
Schwesterherz, was fällt dir ein! Alles wird gut!«
Aber woher
will ich wissen, dass alles gut wird? Was überhaupt wird? Das weiß ich ja nicht
mal für mich selber.
Shenja, wo
bist du? Wie geht es dir? Denkst du an mich?
1. Januar
1915.
Silvester.
Zuerst saßen wir zu Hause beieinander, dann ging jeder seiner Wege. Papa und
Mama gingen schlafen, Sascha irgendwohin zu Freunden, die Schwestern genauso.
Sie wollten mich mitnehmen, aber ich erfand eine Ausrede. Jetzt hocke ich in
der Neujahrsnacht allein herum und blase Trübsal. Zum ersten Mal im Leben ein
Glas Sekt getrunken. So gern hätte ich mit Shenja angestoßen und mit Tala, aber
die sind weit weg. Ihr Onkel hat ein Gut im Gouvernement Jekaterinoslawsk, in
einem Ort namens Sokolowka, da verbringen sie immer ihre Ferien.
Viel Zeit
verbrachte ich heute mit dem Ankleiden: zog mein blaues Kleid an, steckte eine
Brosche an, band eine schöne Schleife. Immer mit der Frage im Kopf: Wozu? Er
sieht es ja doch nicht. Und wieder ein Orakel: Als es zwölf schlug, musste
jeder seinen Zettel mit einem Wunsch verbrennen und die Asche schlucken, damit
er in Erfüllung geht. Sogar Papa und Mama wurden genötigt mitzumachen. Aber
irgendwie kam keine Stimmung auf. Ich habe wieder dasselbe Wort aufgeschrieben.
Hinterher sangen wir, die Münder schwarz von der Asche. Und plötzlich hielt ich
es wieder nicht mehr aus. Ohne Shenja ist alles öde, blöd und sinnlos. Ich ging
in mein Zimmer, und das Fest war zu Ende, alles lief auseinander. Mir scheint,
etwas stimmt nicht mit unserer Familie. Papa ist seit einiger Zeit sehr
verändert. Mama und er reden kaum noch miteinander.
Ich liebe
ihn! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn!
Ach,
könnte ich doch jetzt in diesem wunderbaren Sokolowka sein!
2. Januar
1915
Die Njanja
hatte ihren Patensohn zu Besuch. Ein schöner junger Mann, dem eine Hand fehlt.
Er ist Schreiber, und es hat ihm an der Front die rechte Hand abgerissen, nun
lernt er mit der linken zu schreiben.
Ich lese
wieder einmal in der Bashkirtseff. Mein Gott, es ist erst ein Jahr her, dass
ich das las - und verstand nichts! £5 scheint
mir, als wenn ich in dieser Welt zum Glück geschaffen wäre. Mach mich
glücklich, o mein Gott! Da ist von mir die Rede! Ich bin
geschaffen für Triumphe und Erregungen; also das Beste, was ich tun kann, ist,
dass ich Sängerin werde. Tatsächlich kommt es mir nun ganz
so vor, als wäre ich das. Sie und ich - derselbe Mensch, und sie ist gar nicht
tot. Denn ich lebe ja! Künste, Musik, Malerei, Bücher,
Welt, Kleider, Luxus, Trubel, Ruhe, Lachen, Traurigkeit, Melancholie, Spott,
Liebe, Kälte, Sonnenschein; alle Jahreszeiten, alle Witterungen, die ruhigen
Ebenen Russlands und die Berge um Neapel; den Schnee im Winter, den Regen im
Herbst, den Frühling mit seinen Torheiten, die ruhigen Tage im Sommer und die
schönen Nächte mit ihrem Sternenglanz - das ist es doch, was ich über alles
in der Welt liebe! Und meinen Shenja. Den kannte sie nur nicht.
3. Januar
1915
In der
Zeitschrift Niwa ganz hinten sind Listen gefallener
Offiziere abgedruckt. Vor jedem Namen ein Kreuz, das aber aussieht wie ein
Kreuzass.
Da findet
ein furchtbarer Krieg statt, und wir schreiben Fragebögen zu Liebesdingen
voneinander ab. Wie schrecklich die Welt doch eingerichtet ist. Wichtiger als
alle Kriege der Welt erscheint auf einmal folgende
Frage: Ein König
hatte eine Tochter, die einen einfachen Mann aus dem Volke liebte. Als der
König davon erfuhr, entbrannte sein Zorn, und er wollte ihn hinrichten. Die
Prinzessin weinte und flehte ihren Vater an, welcher daraufhin so entschied: In
der Zirkusarena sollten zwei Türen angebracht werden. Hinter der einen lauerte
ein gefährlicher, hungriger Tiger, hinter der anderen eine schöne Frau. Der
Geliebte würde hereingeführt werden und aufs Geratewohl eine der beiden Türen
öffnen müssen. Öffnete er die Tür mit dem Tiger, bedeutete das den sicheren
Tod. Öffnete er die andere Tür, bekäme er die Schöne zur Frau, dazu einen
Haufen Geld und die Erlaubnis, mit ihr ein Schiff in ein fernes, schönes Land
zu besteigen. Die Prinzessin wusste, wo der Tiger war und wo die Frau. Das Volk
versammelte sich im Zirkus, der Verurteilte wurde hereingeführt und bat die
Prinzessin mit einem flehenden Blick um Hilfe. Das verliebte Mädchen litt
Höllenqualen, wurde abwechselnd rot und blass und zeigte schließlich auf eine
Tür. Was war dahinter?
Natürlich
die Frau, gab ich aufrichtig zur Antwort, denn wahre
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