Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Stunden später sieht man noch kaum etwas von meinem Versuch, das Chaos einzudämmen. Im kleinen Badezimmer türmen sich Säcke mit schmutziger Wäsche – ich weiß nicht, wie diese Wäscheberge jemals gewaschen und getrocknet werden sollen. Es bleibt nicht aus, dass wir streiten – sie macht mich aggressiv mit ihrer Trägheit und ihrem Unwillen, auch nur ein wenig zuzupacken. Vermutlich mache ich sie mit meiner hektischen Aktivität ebenso nervös. Schließlich bin ich vollkommen erschöpft und beschließe, die Mülltüten nach unten zu bringen. Da ich nicht alles auf einmal tragen kann, bitte ich Lena, mir zu helfen. Sie hat keine Lust, sie ist nicht angezogen, sie hat keine Schuhe an. Wütend packe ich so viele Tüten, wie ich tragen kann, und gehe zum Aufzug. Unten suche ich nach den Mülleimern. Weil es um halb zehn Uhr abends bereits dunkel ist, stolpere ich über einen Betonsockel und stürze der Länge nach hin. Inmitten des Mülls liegend, der aus den aufgerissenen Tüten quillt, spüre ich einen unbeschreiblichen Schmerz in meiner Hand. Der Zeigefinger steht in einem extremen Winkel von der Hand ab – er ist ausgekugelt. Ich lasse mich wieder in den Dreck fallen und heule. Aufstehen kann ich nicht, weil ich mich nicht abstützen kann. Mein Handy habe ich nicht dabei, aber ich könnte es ohnehin nicht bedienen. Eine klebrige Flüssigkeit läuft über meine Knöchel. An der Hand mit dem ausgekugelten Finger hängen Teeblätter und Joghurt. Niemand ist da, den ich um Hilfe bitten könnte. In diesem Moment, in dem ich nachts heulend und mit ausgekugeltem Finger in einem Müllhaufen liege, steigt eine unbändige Wut in mir hoch. Ich wünsche mir, keinen einzigen Tag mehr weiterleben zu müssen.
Nach einer halben Stunde erscheint Lena rauchend mit einer einzelnen Mülltüte in der Hand und ruft nach mir. Sie hat sich nun doch gewundert, dass es so lange dauert. Zum Glück hat sie ihr Feuerzeug bei sich, so dass sie mich findet und mir helfen kann, aufzustehen. Auf dem Podest sitzend bemühe ich mich, jede Bewegung mit dem schmerzenden Finger zu vermeiden. Autofahren ist unmöglich. Ich fange wieder an zu weinen. Es ist, als ob mich plötzlich jegliche Kraft verlassen hat. Nun ist auch Lena besorgt und ruft einen Nachbarn an, der mitten in der Nacht kommt und mich ins Krankenhaus fährt. Zwei Stunden warten wir im überfüllten Wartezimmer. Die Schmerzen sind kaum zu ertragen. Schließlich werde ich hineingerufen, und der Arzt fragt erschrocken, wie lange ich denn schon warte, denn ein ausgekugeltes Gelenk müsse so schnell wie möglich wieder eingerenkt werden. Das hätte ich gleich am Empfang sagen müssen. Soll ich erwidern, dass ich genau das laut und deutlich beim Empfang gesagt und meine Hand auch noch hochgehalten habe? Ich bin zu desillusioniert und zu erschöpft, um etwas zu erklären. Ich zucke mit den Schultern und antworte nicht. Um zwei Uhr nachts bin ich schließlich im Bett. Von dieser schrecklichen Nacht ist mir ein Andenken geblieben: Bis heute ist der Zeigefinger nicht so beweglich wie die anderen Finger.
Prüfung bestanden!
Im Juli 2007 besteht Lena auch die beiden letzten schriftlichen Fächer und hat nur noch die mündliche Prüfung vor sich. Mit Kommunikationsfähigkeit und Charme gelingt es ihr, in Prüfungen eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, vor allem wenn die Prüfer männlich sind. Wie bei ihrem Realschulabschluss sitze ich dem Herzinfarkt nahe vor der Schule. Die letzten zehn Jahre haben ihre Spuren bei mir hinterlassen. Der mitleidige Hausmeister bringt mir einen Stuhl und ein Glas Wasser. Wieder kommt eine strahlende Lena aus der Prüfung. Sie sieht mein blasses Gesicht und fragt besorgt und erstaunt: »Was hast du denn, Mama? Irgendwas nicht in Ordnung?« Trotz meiner Erschöpfung muss ich lachen. Natürlich ist alles in Ordnung. Die vielen Jahre mit Kummer, meinen Unterstützungsbemühungen, gesundheitlichen Problemen und finanziellen Sorgen zählen nicht mehr. Lena hat bestanden, sie hat jetzt einen ordentlichen IHK-Abschluss. Sie hat das geschafft, was ihr die Ärzte nicht zugetraut haben.
Die bestandene Prüfung ist eine große Bestätigung für Lena. Sie ist überglücklich, hat viele Pläne und kann gleich im Anschluss an die Prüfung ein Praktikum beginnen. Sie ist in der »normalen« Welt angelangt, hat eine Tagesstruktur und freut sich über ihr kleines Gehalt. Das erste Geld, das sie nicht ihrer Mutter verdankt! Es tut ihr gut und damit auch mir. Nur mein
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