Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Coaching hört nicht ganz auf. Mehrmals am Tag ruft sie mich an, um von etwas zu berichten, was sie irritiert. Oder um zu fragen, ob sie in einer bestimmten Situation richtig gehandelt habe. Oft kann ich sie kaum verstehen, weil sie dermaßen schluchzt. Eine Kollegin ist ihr gegenüber etwas harsch. Jemand hat sie kritisiert, ihr gesagt, dass sie nicht einfach eine Tasse in der Küche benutzen darf, sie muss ihre eigene Tasse mitbringen. Die Rituale der Bürokultur sind Lena noch fremd. Es sind Kleinigkeiten, aber sie bringen sie aus dem Konzept. Sie braucht eine Anlaufstelle, die ihr in kritischen Situationen immer wieder Rückhalt und Zuwendung sichert. Telefonisch rate ich ihr, so gut ich kann. Es ist oft anstrengend für mich, aber ich würde alles tun, um nicht erleben zu müssen, wie mein Kind wieder in eine furchteinflößende, für mich nicht erreichbare Welt verschwindet. Und es scheint zu funktionieren. Ihre Arbeit wird geschätzt, und sie bekommt das Angebot, ihr Praktikum zu verlängern. Selbstbewusst lehnt Lena ab, sie will jetzt »richtig« arbeiten. Einige Tage später ruft sie mich voller Stolz an. Ohne jede Unterstützung hat sie einen Arbeitsplatz gefunden und auch schon den Arbeitsvertrag unterschrieben. Eine Woche später beginnt sie bei einer Versicherungsgesellschaft. Die Arbeit am Computer liegt ihr. Sie kann sich die Zeit selbst einteilen, und über ein Programm lässt sich überprüfen, wie viel sie geschafft hat. Sie belehrt mich über Sach- versus Personenschaden und erzählt lachend von den merkwürdig formulierten Forderungen mancher Antragsteller. Monatelang erreicht sie den ersten Platz unter den Kolleginnen und ist wütend, als plötzlich eine neue Kollegin ihr diesen Platz streitig macht. Aber sie kämpft sich wieder an den ersten Platz. Ich freue mich, dass sie wieder Ehrgeiz entwickelt, eine Sache gut zu machen, etwas leisten und erreichen will. Ich freue mich über alle Regungen und Verhaltensweisen von Lena, die »normal« sind. Es ist eine schöne und befriedigende Zeit für Lena. Und ich kann sehen, wie gut ihr diese Struktur tut. Sie muss morgens aufstehen, sich zurechtmachen und pünktlich bei der Arbeit erscheinen.
Lena ist krank, aber nicht dumm
Eines Tages ruft mich die Betreuerin an und fragt, ob Lena nicht mehr bei ihrer Versicherungsgesellschaft arbeitet. Es sei diesen Monat kein Geld auf Lenas Konto eingegangen. Ich falle aus allen Wolken. Schließlich stellt sich heraus, dass es Lena mit einem cleveren Schachzug gelungen ist, die Betreuerin auszutricksen. Sie hat ein Konto bei einer neuen Bank eröffnet und es ihrem Arbeitgeber als Gehaltskonto angegeben. Auf dieses Konto hat die Betreuerin zunächst keinen Zugriff. Lena hat einen kleinen Punktsieg über mich, das Gericht und die Betreuerin errungen. Trotz meines Ärgers kann ich nicht umhin, Lenas Zähigkeit und ihren Einfallsreichtum zu bewundern. Weniger bewundere ich allerdings, dass sie die Situation auch gleich genutzt hat, um den neuen Dispositionskredit bis zum letzten Cent auszuschöpfen. Alles innerhalb von ein paar Tagen.
2008
Unsere Reise nach Indien
Nach den Anstrengungen der letzten Jahre wächst in mir der Wunsch, eine lange Reise zu unternehmen. Und sie soll nicht nur lang sein, sie soll mich auch in eine wirklich fremde Welt führen, weg von Alltag, Krankheit und Krankenhaus. Warum nicht Indien? Schließlich ist Lenas Vater Inder. Und ich liebe indisches Essen und die üppigen Farben der Saris und der Gewürze.
Soll ich allein nach Indien fahren? Es kommt mir ein bisschen unfair vor. Lena reist gerne und wollte immer schon ihre »Wurzeln« kennenlernen. Wenn wir vor ihrer Krankheit gemeinsam auf Reisen gingen, waren es immer schöne Erlebnisse. Schon mit vier Jahren war sie ein richtig guter »Kumpel«. Und dann erinnere ich mich, dass mir zu Beginn von Lenas Krankheit eine Mutter erzählte, wie froh sie über jede Reise war, die sie mit ihrer kranken Tochter unternehmen konnte. Jedes schöne gemeinsame Erlebnis ist etwas, das bleibt, wenn die Krankheit schlimmer werden sollte.
Lena ist begeistert, als ich ihr von dem Projekt erzähle, auch, weil ich sie als Stütze für mich brauche. Sie kann mehrere Wochen Urlaub nehmen, und dann geht es los. Aber bereits bei der Vorbereitung ergeben sich die schönsten Auseinandersetzungen. Sie möchte für 27 Tage genau 54 T-Shirts mitnehmen. »Es ist da schließlich total heiß, und dann schwitze ich, und da muss ich mich zweimal am Tag umziehen können.
Weitere Kostenlose Bücher