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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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selbst stand reglos da, eine ganze Nacht lang – so kam es ihr jedenfalls vor –, während der Regen auf sie niederströmte, ihre Kleider durchnässte und ihr das Haar ins Gesicht peitschte. Sie wartete darauf, dass sich die Gestalt rührte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie sie getötet hatte: Sie glaubte nicht einmal, dass sie sie angefahren hatte.
    Máire starrte wie in Trance auf die konkave Linie ihrer Wirbelsäule, die im Schein der Innenbeleuchtung ihres Geländewagens unnatürlich skelettartig aussah, und die Knochen zeichneten sich deutlich unter dem nassen Stoff ab.
    Es geschah nichts.
    Die Sekunden verstrichen.
    Der Regen prasselte nieder.
    Sie musste sich zusammenreißen.
    Máires Beine zitterten, als sie sich unsicher in Bewegung setzte, so als watete sie durch eine Mauer aus Wasser. Drinnen im Wald brach krachend ein Ast. Máire schnappte nach Luft und spähte zwischen die massiven Stämme. Sie kniff die Augen zusammen, der Regen blendete, aber sie sah nichts außer Finsternis, verbogenem Stacheldraht und knorrigen Ästen, an denen der Wind zerrte.
    Máire fror.
    Die Nacht war ungewöhnlich kalt, und sie fühlte sich auf einmal unwohl. »Ist da jemand?«, rief sie. Ihre Stimme wurde von Wind und Regen übertönt. Sie schlang die Arme um ihren Körper und sah sich um, intuitiv wusste sie, dass da draußen jemand war.
    Ein Wimmern.
    Máire fuhr herum.
    Die Gestalt bewegte sich.
    Gott sei Dank! Sie lebte!
    Máire lief zu dem zusammengekrümmten Körper und kniete sich in den Matsch.
    Die Frau zuckte. Máire streckte den Arm aus und legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. Kleid und Haar waren tropfnass, und sie schlotterte am ganzen Körper, als hätte sie Fieber.
    Máire konnte ihre rasselnden Atemzüge durch den strömenden Regen hindurch hören und nahm einen unangenehmen, stechenden chemischen Geruch wahr, den die Frau ausströmte. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Etwas Ähnliches hatte sie schon mal gerochen: Kampfer und Alkohol vielleicht, oder Ammoniak gemischt mit verwesendem Fleisch. Sie atmete den Geruch tief und verwundert ein, konnte ihn aber trotzdem nicht genauer einordnen.
    Die Frau stöhnte vor Schmerzen, und mit einer ungeheuren Kraftanstrengung drehte sie den Kopf, blinzelte in den Regen und fixierte Máire desorientiert.
    Máire unterdrückte einen Aufschrei.
    Das Gesicht glich einer Totenmaske an Karneval: Ein Netz aus spinnwebendünnen Adern zeichnete sich unter der nassen, frostweißen Haut ab. Lippen und Wangenknochen waren blauschwarz, als hätte sie irgendein verrückter Maskenbildner wie ein Vampir geschminkt. Die Fingernägel waren schwarz lackiert. Ein Auge war geschwollen und kaum noch zu sehen, aber in der Dunkelheit der Nacht wirkte es wie ausgestochen wie bei einem ausgehöhlten Kürbis. Sie war mager und schrecklich runzlig, obwohl sie noch nicht alt war, fünfundzwanzig vielleicht.
    Der Anblick war unerträglich, Máire wandte sich ab und sah gen Himmel; die Frau sah aus wie eine Tote, die noch nicht tot war.
    Máire holte tief Luft. Der Geruch, der fürchterliche Verwesungsgeruch, der den Eindruck noch verstärkte, als wäre die Frau gerade einem kalten Grab entstiegen, verursachten bei Máire Übelkeit und Brechreiz, aber der Regen war frisch und rein, und sie ließ seine Tropfen auf ihr Gesicht niederprasseln.
    Dann schnitt sie beschämt eine Grimasse und zwang sich, ihren Blick wieder auf die Frau zu richten. Diese bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, sie brachte jedoch kein Wort heraus, weil ihre Zähne wie Kastagnetten klapperten. Der Lippenstift war verwischt, und die angetrocknete Farbe an ihrem Mund glänzte wie Blut.
    Máire schauderte, aber sie wurde gleichzeitig von unbeschreiblicher Schwermut übermannt, von der gleichen Schwermut, die sie auch auf dem Bonaventure-Friedhof empfunden hatte. Sie rollte ihren Schal zusammen und legte ihn der Frau unter den Kopf. »Es tut mir wirklich leid … ich habe Sie gar nicht gesehen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Sie haben … also, Sie haben sich im Gesicht verletzt … und ein Auge ist … Ich weiß nicht, ob das gerade eben passiert ist … Oder vielleicht ist Ihnen ein Zweig ins Gesicht geschlagen?« Máire atmete den widerlichen Gestank ein und schluckte.
    Die Frau führte ihre Hand an die rechte, misshandelte Gesichtshälfte, sodass die weiten, mit Klöppelspitze besetzten Ärmel nach oben rutschten. Ihre Finger waren wie Rattenklauen nach innen gekrümmt, aber es waren ihre

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