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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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ihrer Rechten aufscheinen. Im nächsten Moment kam von links ein anderer Schatten näher, und plötzlich schien es von Schatten, die sich bewegten, nur so zu wimmeln: Schatten von windgepeitschten Zweigen mit schweren Seilen aus spanischem Moos, die im Wind tanzten und sich gegenseitig und dem unruhigen Himmel das Licht streitig machten.
    »Lauf!« Die Frau streckte einen Arm aus und rief mit belegter, verzweifelter Stimme in den Regen. »Sie kommen …«
    Bei Máire schrillten sämtliche Alarmglocken, ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren und ihr Herz raste, sodass ihr der Brustkorb wehtat. Sie konnte ein hysterisches, beinahe paranoides Gefühl von höchster Gefahr nicht unterdrücken. Obwohl sie weder anfällig für Hysterie noch für Paranoia war.
    Dennoch redete sie beruhigend auf die Frau ein. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bringe Sie weg von hier. Wir müssen es nur bis zum Auto schaffen.«
    Máire stand auf, packte die Frau resolut unter ihren schmalen Schultern und zog sie durch Matsch und Pfützen zu ihrem Geländewagen. Es war nicht einfach, das Gleichgewicht zu halten, denn die schwere Erde blieb an ihren Schuhsohlen kleben wie Treibsand und sie blieb mit ihren Sandalen ein paar Mal stecken. Aber schließlich gelang es ihr, die Frau gegen einen der breiten Reifen zu lehnen, ohne die Schuhe zu verlieren. Nun waren sie vom Wald aus nicht mehr zu sehen.
    Máire konnte sie nicht hochheben. Sie schnaufte. »Wie heißen Sie?«
    Die Frau zog die Augenbrauen hoch, als würde sie über ihren eigenen Namen nachdenken.
    Máire streichelte ihre Wange.
    »C.J.«, flüsterte sie.
    »Sie müssen mir helfen, C.J. … glauben Sie, dass Sie das können?«
    Die Frau nickte, holte tief Luft und krümmte sich vor Schmerzen. Ein hässlicher Blutfleck färbte ihr verschlissenes Hemd dunkelrot. Sie versuchte aufzustehen, doch sie konnte nicht. Ihr Gesicht war verzerrt, und sie wurde noch blasser: Es fehlte nicht viel, und sie würde das Bewusstsein verlieren.
    Ein Windstoß erfasste Máires Haar, schlug es ihr ins Gesicht, und aus dem Augenwinkel registrierte sie etwa dreißig Meter links von ihr eine Bewegung. Sie spähte in den Wald hinein. Schwarze Wolken fegten am Himmel über sie hinweg, Schatten schienen zu schweben wie riesengroße Fledermausflügel. Aber sie sah noch etwas anderes: Ein Schatten, kaum dunkler als die Nacht selbst, der aus seinem Versteck hinter einer Eiche nach vorn schoss, gebückt wie jemand, der einen Hexenschuss hat, und hinter einem anderen Baum verschwand.
    Máire hielt den Atem an. Sie konnte auch die dunkle Verlängerung des Armes erkennen, ohne Zweifel eine Waffe: eine Flinte oder ein Jagdgewehr.
    Jetzt bekam sie es wirklich mit der Angst. Irgendjemand da draußen schlich sich näher an sie heran. Máire wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Alles schien damit zusammenzuhängen, dass C.J. ein wichtiger Teil eines bösartigen wissenschaftlichen Experiments war. Oder der Täter hatte sie zu seinem eigenen perversen Vergnügen eingesperrt und misshandelt. Auch so etwas soll es bekanntlich geben.
    Der Gedanke an die Grausamkeiten, denen die Frau ausgesetzt gewesen sein musste, und an die Person, die dieses widerwärtige Werk zu verantworten hatte, ließ Máire das Blut in den Adern gefrieren. Sie überlegte, wie lange der Kerl brauchen würde, um bis zu ihr vorzudringen. Sicherlich nicht besonders lange. Weniger als eine Minute? Weniger als eine halbe Minute?
    Die Angst gab ihr Kraft, und sie legte vorsichtig C.J.s Arme um ihren Körper. Als würde das Mädchen kaum etwas wiegen, hob sie es auf den Beifahrersitz.
    Máire schlug die Tür zu, lief um den Wagen herum, ließ sich auf den Fahrersitz fallen, verriegelte von innen die Türen und drehte den Zündschlüssel. Die Reifen drehten durch, dass der Matsch spritzte, dann griffen sie, und Máire trat das Gaspedal durch. Sie wollte nach Savannah.

3
     
    Máire warf einen ängstlichen Blick über die Schulter und schaltete. »Guter Gott im Himmel! Ich glaube, er hat auf uns geschossen!« Es klang nicht so, als hätte jemand die Verfolgung aufgenommen, aber Dunkelheit und Regen machten es ihr unmöglich, das sicher zu wissen.
    Der Regen wurde stärker und klatschte mit solcher Kraft gegen die Frontscheibe, dass sie kaum etwas sehen konnte. Die schmale Fahrspur war mit Wasser gefüllt und hatte sich an einigen Stellen in einen Fluss verwandelt, der in den Graben hinabrauschte. Tief hängende Zweige schlugen gegen Autodach und Seitenscheiben.

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