Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
Vom Netzwerk:
Unterarme, die Máires Aufmerksamkeit auf sich zogen, obwohl die dunkle Nacht gnädigerweise die schlimmsten Details verhüllte. Ein Arm sah steif aus und war genauso durchsichtig wie Sodawasser mit Eis. Der andere schien nur aus einem Netz von Stichverletzungen, Adern und geplatzten Blutgefäßen zu bestehen.
    Máire starrte sprachlos auf ihre Arme. Bei dem Anblick drehte sich ihr der Magen um, und der Gestank machte die Übelkeit noch schlimmer. Irgendetwas daran kam ihr bekannt vor – so wie Spezialeffekte in Filmen. Aber das hier war kein Film. Es war Wirklichkeit – Wirklichkeit, die der Fantasie nur zu ähnlich sah.
    Máire fiel auf, dass ein dünner farbloser Schlauch in ihre Nase hineinführte. Und ein eiskalter Schauer lief Máire langsam den Rücken hinab, als sie ihren Blick weiterschweifen ließ. Die Frau hatte Blut an den Beinen, und irgendwelche metallischen Gegenstände ragten aus dem Halsausschnitt ihres stockfleckigen Gewandes heraus. Máire musterte es einen kurzen Augenblick schweigend. Dann schob sie den Stoff vorsichtig zur Seite, voller Angst, was sie darunter entdecken würde.
    Die Frau hatte eine seltsame Apparatur auf dem Brustkorb, die einer milchig-durchsichtigen Batterie in Übergröße glich, und ihr Körper war mit Pflasterstreifen versehen und mit blinkenden Apparaten sowie einem Wirrwarr aus Kabeln, Kupferdrähten und Messinstrumenten verbunden.
    Máire unterdrückte die nächste Welle von Übelkeit. In der trüben Flüssigkeit der Batterie bewegte sich irgendetwas. Sie konnte nicht genau erkennen, was es war, aber es glich einer Schlange … Maden?
    Máire schlug die Hand vor den Mund.
    Was zum Teufel …?
    Máire dachte an einen Cyborg, dessen Körperfunktionen von mechanischen oder elektronischen Apparaten gesteuert werden. Aber sie spürte instinktiv, dass hier irgendetwas nicht stimmte und dass es nicht nur um derartige Hilfsmittel ging, sondern um etwas ganz anderes. Sie dachte an medizinische Zusammenhänge, und auch wenn sie persönlich in Verbindung mit Jesses Krankheitsverlauf Zeugin einiger der schlimmsten Ungeheuerlichkeiten der Medizin geworden war, widersprach dies hier allem, was menschlich und natürlich war.
    Sie schluckte, nahm vorsichtig die weiße Hand der Frau und fühlte das kleine bisschen Körperwärme, das noch geblieben war. Sie war so unendlich zerbrechlich.
    »Was um alles in der Welt ist mit Ihnen passiert?«, flüsterte Máire. Ihr wurde sofort klar, dass ihre Frage nutzlos war. Aber die Frau antwortete – oder versuchte es zumindest. Sie stieß einen verzerrten, angstvollen Klageschrei aus und bewegte ihren geöffneten Mund, um ein Wort herauszubringen. Es bereitete ihr Mühe, die Wörter deutlich auszusprechen.
    »Eingesperrt …«
    »Sie waren eingesperrt? Wo denn?«
    »Uh … unter der Erde! Sehr lange. Sehr, sehr lange.« Jeder ihrer Atemzüge war kurz, gehetzt und panisch.
    Máire sagte: »Schsch, strengen Sie sich nicht unnötig an. Ich rufe einen Notarzt …«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Neinneinnein, sie kommen …«, flüsterte sie eindringlich. Ihre Stimme war rau und hatte den typischen Tonfall von jemandem, der völlig panisch ist … oder Schlangen in der Cornflakes-Schachtel sieht.
    »Sie kommen …«, schluchzte sie. Von ihrem unheimlichen Gesicht war nur ein Auge sichtbar. Ihr stand kalter Schweiß auf der Stirn. Die Frau begann, vollkommen unkontrolliert zu schlottern. »Sie kommen … sie kommen! Sie dürfen uns nicht … nicht finden!«
    Máire sah sich um. Sie fühlte sich angreifbar und wehrlos. »Wer sind den die? Kennen Sie sie?«, wollte Máire wissen.
    Die Frau versuchte etwas zu sagen, aber der Regen übertönte ihre Worte. Máire legte das Ohr an ihren Mund.
    Die Frau flüsterte: »Totenmänner!«
    »Totenmänner? … Was ist das denn?«
    »… furchtbare Sachen … mit den Toten … Totenporno!«
    Totenmänner? Sex mit Toten? Was zum Teufel? Máire runzelte die Stirn. Wusste sie überhaupt, wovon sie redete?
    Der Regen strömte herab, und der Wind heulte wie eine Meute Höllenhunde. Der Lärm wurde von einem lauten Knall übertönt, der aus dem Wald zu kommen schien. Zu ihrer Linken sauste so etwas wie ein silberner Blitz durch den Regen.
    Máire erstarrte. Sie blickte zur Seite, ohne den Kopf zu drehen. Eine Sekunde verstrich, danach zwei, dann pfiff wieder etwas an ihr vorbei. Ein Blitz erhellte den Himmel, hell wie eine Sternschnuppe, die kurz darauf erlosch, und in dem flackernden Licht sah Máire einen Schatten zu

Weitere Kostenlose Bücher