Schlaf, Kindlein, schlaf
goldgrünen, glimmenden Augen, dann lief sie lautlos auf sie zu und strich um ihre Beine.
»Hallo, Kleine.« Máire nahm die Katze auf den Arm und küsste sie hinter das Ohr.
Sie hörte das leise, monotone Ticken der Küchenuhr und das Summen des Kühlschranks, sonst war es still.
Hinter der Tür führte eine Treppe nach oben. Hinter einer Flügeltür, die offen stand, lagen die Wohnräume mit den hohen Decken, und in die Küche kam man über einen Flur. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, in den Zimmern war es dunkel. In der Dunkelheit schienen sich die Wände und die Stuckdecke gespenstisch über ihr zu wölben.
Über der Kommode hing ein großer antiker Spiegel in einem Silberrahmen, und ein einziges Bild zierte die Wand, das ein gotisches Gebäude im Morgennebel zeigte. Das Wort Venedig stand in Druckbuchstaben darunter, und sie musste an Jesse denken und daran, wie er im Krankenbett ausgesehen hatte. Er hatte dieses Bild geliebt. Und er hatte die schöne Stadt Venedig geliebt, das Ziel ihrer glückselig-berauschenden wunderbaren Hochzeitsreise. Es vergingen genau zehn Jahre, bevor das Blatt sich wendete und sie erfuhren, dass Jesse unheilbar krank war, zehn Jahre bevor Gesang und Tanz aufhörten. Damals war das Leben schön, und Máire hatte noch nicht begriffen, dass sie auf die schleichenden Schatten achtgeben musste, und noch weniger ahnte sie, dass die Zukunft nur selten so wird, wie es scheint.
Alles, was Máire auf die harte Tour gelernt hatte, hatte seinen Preis, und der Preis für Glück war besonders hoch: Denn erst wenn man erlebt hatte, was Glück war, wusste man auch, wie groß der Schmerz war, wenn man wieder darauf verzichten musste.
Ihre Erinnerungen glichen einem Schleier, den sie nicht ablegen konnte. Bisweilen war ihre Welt mit Bildern und fernen Stimmen gefüllt, Details, die sie vergessen glaubte, und für kurze Momente schien es, als hätte Jesse nie existiert, wäre nur ein Traum vom Glück und von unsterblicher Liebe, ein verzauberter Wunsch, eine Hoffnung, mit Seidenpapier und Bändern geschmückt.
Die Männer fanden sie attraktiv, und im Laufe der Zeit begann ihr der eine oder andere zu gefallen, sie gingen miteinander ins Bett, aber hinterher empfand sie nichts als kalte Gleichgültigkeit. Bei dem Gedanken, bis ans Ende ihrer Tage einsam und ohne Leidenschaft zu leben, kamen ihr die Tränen. Sie schluckte die Tränen hinunter, schloss die Augen und hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. Verdammt!
Kitty spürte ihre Anspannung, wand sich aus ihrem Arm und sprang auf den Boden. Máire saß ein Kloß im Hals.
Über allem lag eine feine Staubschicht, und Spinnenweben spannten sich von einer Ecke des Spiegels über die Glasfläche, als wollte die Urheberin mit den Flecken auf dem Glas darum konkurrieren, wer die Spiegelungen zuerst zum Verschwinden bringen würde. Als Máire vor den Spiegel trat, erwartete sie fast, dass ein Ungeheuer aus irgendeinem gotischen Märchen zurückstarrte. Aber nur ihr eigenes bleiches, ernstes Spiegelbild wurde auf dem mit Patina bedeckten Glas sichtbar. Sie sah schrecklich aus.
Máire atmete stoßweise aus, lehnte sich vor, und das Spiegelbild hauchte mit seiner Flüsterstimme: Pass gut auf dich auf. Du brauchst eine Gesichtsmaske, wirklich! Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Kleider hingen an ihr herab wie bei einer Vogelscheuche. So wie du aussiehst, könntest du geradewegs einer Gruft auf dem Lafayette No. 1 entstiegen sein … wenn du immer noch in New Orleans wohnen würdest, wohlgemerkt. Sie hatte so lange in New Orleans gelebt, dass sie bisweilen vergaß, nicht mehr dort zu wohnen.
Geistesabwesend steckte sie ihr Mobiltelefon in das Ladegerät und sah die Post durch, die Val gesammelt und in die Silberschale auf der Kommode gelegt hatte. Sie atmete tief ein. Es roch nach Staub und abgestandener Luft. Máire merkte, dass sie stark schwitzte. Sie ging durch den Flur mit seinen silbrig glänzenden Schatten und streifte Schuhe, T-Shirt und Hose ab. Sie stellte fest, dass die Katze nicht in ihrem Korb unter der Treppe lag, und zuckte die Achseln. Ihn zu nutzen, war sowieso meistens unter ihrer Würde.
Máire hob ihre Kleider auf, warf sie auf einen Stuhl, ging in die Küche und schaute in den Regen hinaus, der die Fensterscheibe hinunter rann.
Sie war hundemüde, ihr Kopf dröhnte, und ihre Glieder schmerzten so sehr, dass jeder Atemzug wehtat.
9
Máire saß in dem grellen kalten Licht der Neonröhre in
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