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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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der Küche und suchte in den ziemlich kahlen Kammern ihres Gedächtnisses nach einem guten Grund – nach irgendeinem sinnvollen Grund –, warum sie existierte.
    Was sie fand, war Leere.
    Und das Regengeflüster.
    Und die Neonröhre, die unerbittlich ihr falsches Licht verströmte … und ihre Unvollkommenheit entlarvte, all ihre Fehler und Unzulänglichkeiten.
    Sie stand abrupt auf – so abrupt, dass sie beinahe den Stuhl umgestoßen hätte –, ging zur Wand und betätigte den Lichtschalter. Die Schatten kehrten von ihren Zufluchtsorten in die Ecken zurück.
    Sie stellte das Radio lauter, zündete zwei Teelichte an und sah zur verregneten Fensterscheibe hinaus. Dann machte sie sich einen Toast mit Schinken und Käse, öffnete eine Flasche Wein und setzte sich an den Tisch. Sie seufzte und biss in das geröstete Brot. Im Radio spielte eine Frau Klavier und sang: If I kiss you where it’s sore, will you feel better, will you feel anything at all?
    Es kommt ganz darauf an, wie gut du küssen kannst. Und wie geduldig du bist. Denn ich bin an mehr Stellen verletzlich, als ich dachte.
    Máire hob ihr Glas und prostete der Luft zu, während sie darüber nachdachte, was aus dem Mädchen geworden war, das so selbstverständlich an Wunder glaubte. Das dachte, es gäbe für alles eine Lösung. Das an das Glück glaubte und daran, dass das Leben einen Sinn hatte. Und dass hinter der nächsten Ecke immer etwas Aufregendes wartete. Vielleicht war sie in New Orleans geblieben. Vielleicht konnte sie sie überreden, mit nach Charlotte zu ziehen. Vielleicht war das alles auch einfach nur ein schlechtes Klischee.
    Sie trank einen Schluck Wein. Er schmeckte bitter.
    Warum sollte sie Zugvögeln Namen geben, wenn sie früher oder später sowieso davonflogen? Warum sollte sie traurig sein, wenn sie so gern in lauem Sommerregen mit aufgespanntem Schirm spazieren ging? Das war ja sowieso nur eine Illusion. Eine gut verborgene Tragödie. Hatte nicht Hemingway geschrieben, dass es für zwei verliebte Menschen kein glückliches Ende geben konnte?
    Das kann man wohl sagen, alter Freund.
    »Deine Liebeslieder haben keinen Text«, flüsterte sie sich selbst zu. »Du trinkst deine Träume und Erinnerungen aus zerbrochenen Gläsern. Du führst ein Dasein voller Seufzer. Das Einzige, was du hast, sind ein kleiner verwilderter Garten, den der nächtliche Regen in einen Sumpf verwandelt hat, zerstörte Hoffnungen und von Motten zerfressene Erinnerungen. Erinnerungen und Bilder von dem Leben, das du dir gewünscht hast – und sonst gar nichts.«
    Ach ja, und du hast natürlich auch bitteren Wein, alten trockenen Toast … und Regina Spektor, die melancholisch im Radio blökt.
    Was sollte sie nur mit sich anfangen? Sie hatte keine Ahnung. Aber eine verrückte Idee begann, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Du weißt nicht mal, wer sie ist. Geschweige denn, wie sie heißt. Na großartig!
    Máire legte den trockenen Toast auf den Teller, stand auf und ging nach oben ins Bad. Nach einer Dusche stieg sie hinauf ins Schlafzimmer unter dem Dach. Es war dunkel, warm und roch ungelüftet. Máire machte die Balkontür auf. Der Regen duftete frisch. Sie stieß die Fensterläden auf, stellte den Ventilator an der Decke an und legte sich aufs Bett.
    Aber sie kam nicht zur Ruhe.
    Ihr graute vor der Nacht. Die Nächte waren am schlimmsten. Die Nacht war ein Gefängnis geworden und sie die Gefangene darin. Die Träume waren Dämonen geworden in einer Welt, die ihre Hoffnungen und ihr sentimentales Herz verfluchte.
    Und jeder neue Tag brachte nur wieder eine neue Nacht.
    Sie war eingesperrt in der Hölle, ohne Ketten und ohne dass jemand sie festhielt. Ihr Spiegelbild war ihre Nemesis. Und auf dem Messer in ihrem Rücken waren ihre Fingerabdrücke.
    Auf dem Rückweg hatte sie an nichts anderes gedacht als daran, wieder zu ihrem normalen unspektakulären Leben zurückzukehren. Aber sie hatte keine Ruhe. Sie hörte eine Fliege surren, die auch keine Ruhe fand, und in Gedanken hörte sie immer noch C.J.s ängstliche Schreie – und wenn sie die Augen schloss, rasten die Geschehnisse der Nacht durch ihren Kopf wie eine entgleiste Dampflokomotive. Der Gedanke daran, wo C.J. war und was sie mit ihr gemacht hatten, ließ sie nicht los – Máire konnte sich mühelos zahlreiche Gräueltaten vorstellen, die die junge Frau ertragen musste. Sie versuchte, C.J.s verzweifelte Bemühungen, ihr zu folgen, aus ihrem Kopf zu verbannen und nicht daran zu denken, wie sie auf der

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