Schlaf, Kindlein, schlaf
paranoid, was?«, fragte sie. Ihr Blick zuckte zu seiner ringlosen linken Hand.
»Bist du verheiratet?«
»Geschieden«, log er. »Bist du mit dem Auto hier?«
»Ja.«
»Dann warte in einer Stunde beim Springbrunnen im Forsyth Park auf mich.« Er nickte Richtung Tür, und sie verstand das als Zeichen, dass sie gehen sollte.
Er leerte sein Glas mit dunklem Rum, legte ein paar Dollarscheine auf den Tresen und sagte laut: »Ich bin ein verdammt glücklicher Mann heute Abend, das bin ich wirklich!«
Er schenkte ihr sein bestes Lächeln – eins, das immer wirkte –, aber er sah ihr nicht nach, als sie in die Dunkelheit hinausstöckelte.
Das Leuchtzifferblatt der Uhr zeigte zehn Minuten nach Mitternacht. Die Geräusche der Nacht mit ihrem vertrauten Pfeifen und Quaken eroberten die Stille, und die Dunkelheit war genauso schwarz wie das Innere des Schranks, in den seine Mutter ihn als Kind eingesperrt hatte. Aber seine Augen gewöhnten sich rasch an das Dunkel, und die bei Tage altbekannten Umrisse und Abstände nahmen Form und Gestalt an. Ihre Schritte raschelten leise im feuchten Gras.
»Hier drüben ist es gleich«, sagte er. Eine schmale schmiedeeiserne Tür war in die Wand eingelassen, dahinter ein paar Stufen, die abwärts gingen und zu einer Art Keller zu führen schienen. Marlon förderte einen Schlüssel zutage, der mit einer langen Silberkette an seiner Hose befestigt war, und schloss auf.
Sie berührte das Gitter, das an einigen Stellen so rostig war, dass es beinahe zu Staub zerrieselte. »Was machen wir hier unten?«, fragte sie eindringlich. »Warum gehen wir nicht durch die Haustür?«
Marlon lächelte – ein entspanntes, teuflisches Lächeln –, ignorierte ihre Ängstlichkeit und griff nach den Handschellen. »Wir machen ein kleines Experiment …«, sagte er leise.
»Uh!« Sie kicherte, als hätte er gerade etwas Anzügliches gesagt. »Das ist ganz nach meinem Geschmack!«
20
Máire betrachtete das Haus. Offenbar war niemand da. Die Läden waren geschlossen und verriegelt, und es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Sie suchte nach elektrischen Leitungen und Bewegungsmeldern, aber nichts deutete darauf hin, dass irgendwo ein Alarm angebracht war. Zog man das Alter des Hauses und seine Abgeschiedenheit in Betracht, zweifelte sie auch daran, dass es mit einem Sicherheitssystem ausgestattet war.
Sie kniete sich hin, um unter dem Fußabstreifer nach dem Schlüssel zu tasten, fand jedoch nur Staub und Gras. Sie wusste nicht genau, was sie sich vorgestellt hatte, wie sie ins Innere gelangen sollte. Vielleicht hast du gedacht, er würde nicht abschließen. Oder den Schlüssel unter die Fußmatte legen – falls jemand vorbeikommen und Lust verspüren sollte, reinzugehen und sich Särge anzuschauen.
In die Haustür war ein kleines schmutziges Fenster eingelassen, aber als sie den Hals reckte, stellte sie fest, dass sie nicht hindurchsehen konnte. Sie ließ den Blick schweifen. Irgendein Gegenstand auf der Erde fing Sonnenstrahlen ein und reflektierte sie. Máire bückte sich und nahm ihn in die Hand. Sie drehte ihn um. Es war ein Stück Kupferdraht mit einer Diode. Sie schauderte und versuchte, ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend zu ignorieren. Sie ließ den Gegenstand langsam in ihre Hosentasche gleiten und ging hinter das Haus.
Dort gab es eine große Terrasse aus Holz, aber es fehlten Topfpflanzen und Gartenmöbel. Die Tür war mit einem robusten Holzladen verschlossen und mit Vorhängeschloss und Bolzen verriegelt. Máire sah sich um. An einer Seite des Grundstücks war ein zwei Meter hoher Zaun aus Holzplanken errichtet worden, und wilde Iris rankten daran empor. Zwischen den Bäumen stand ein alter Schuppen, aber eine flüchtige Untersuchung enthüllte kein Versteck, wo er eine Frau gegen ihren Willen festhalten konnte.
Máire wollte die Sache am liebsten schnell hinter sich bringen, ins Haus einbrechen und alles überprüfen. Wenn sie das vorhatte, gäbe es kaum einen perfekteren Zeitpunkt dafür, aber der grenzenlose Optimismus, den sie morgens nach dem Aufstehen verspürt hatte, war rasch wieder verflogen. Von diesem Ort bekam sie eine Gänsehaut. Das Haus stank nach Verderben und Verwesung, es personifizierte förmlich das Böse. Ihre Arme kribbelten und juckten. Sie fröstelte und fühlte die Angst aus den Tiefen ihrer Seele aufsteigen. Offensichtlich war sie der einzige lebendige Mensch im Umkreis von vielen Kilometern. Und doch … Sie seufzte
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