Schlaf, Kindlein, schlaf
unentschlossen. Gegen das, was sie vorhatte, gab es Gesetze. Nötigung. Verfolgung. Einbruch.
Dieses Mal hatte sie das Messer bei sich. Sie nahm es aus der Tasche, wog es in der Hand und drückte auf den kleinen Sicherungsknopf, der die Klinge schnell wie eine Rakete vorschnellen ließ. Das lange scharfe Blatt funkelte in der Sonne.
Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte, und fuhr schließlich nach Savannah zurück. Sie rief bei dem Bestattungsinstitut an, um unter dem Vorwand, es handele sich um einen Todesfall, mit LeBelle zu sprechen. Von einer Frau namens Cordelia erfuhr sie, dass er in der St. Lukaskirche bei einer Trauerfeier war.
Als Máire das düstere gewölbte Querschiff der Lukaskirche betrat, das als Trauerkapelle fungierte, schlug ihr ein bekannter Blumenduft entgegen, den sie mit Tod und Beerdigung verband. Ihr war kalt. Große Nelken- und Liliensträuße standen in Vasen, so weit das Auge reichte. Sie hätte beinahe wieder auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre die Treppe hinuntergelaufen, als die schwere Eichentür durch einen Windstoß geräuschvoll hinter ihr zufiel. Einige der Trauernden wandten sich um und nickten stumm zur Begrüßung. Sie hielt inne und zögerte, dann holte sie tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie hasste diesen Ort von ganzem Herzen.
Es war drückend heiß, und die Trauernden waren zahlreich erschienen. Sie schwitzte stark, war aber nicht sicher, dass das ausschließlich der Wärme zuzuschreiben war.
Sie sah sich um. Stühle gab es keine. Die Anwesenden standen beisammen oder gingen von Grüppchen zu Grüppchen, redeten, sprachen Gebete oder zündeten Kerzen an. Die Trauernden sprachen leise oder im Flüsterton, als hätten sie Angst, den Toten aufzuwecken. Máire sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Eine einzelne Stimme, die eine Tonlage höher war, übertönte die anderen: »Theodore ist sicher in den Himmel gekommen; wie sollte auch ein Mensch, der anderen so viel Gutes getan hat, anderswo hinkommen?«
»Der Arme«, sagte jemand anders.
»Ja, aber glücklich bis zum Schluss.«
»Und klar im Kopf!«, fügte ein Dritter hinzu.
Máire bemerkte mit Widerwillen, dass der weiße Sarg neben dem Altar geöffnet war und den Ehrengast mit rosigen Wangen und Volantkragen zeigte, umrahmt von der perlgrauen Seide der Sarginnenseite und durch den Tod vor diesem Melodram geschützt.
Ihr schauderte vor Unbehagen, und sie konnte kaum atmen; der Geruch und die stickige Luft wurden offensichtlich auch einem anderen Trauernden zu viel, der das einzige Fenster aufmachte, das sich öffnen ließ. Máire spürte den warmen Wind von draußen hereinwehen und stieß einen erleichterten Seufzer aus.
Sie reckte den Hals, ließ den Blick schweifen und entdeckte die Witwe, perlengeschmückt und in Trauerkleidung. Neben ihr stand Marlon LeBelle, das sandfarbene Haar zurückgekämmt, und sprach mit seiner gedämpften Theatersouffleurstimme, die die Hinterbliebenen immer hörten, wenn sie in sein Bestattungsinstitut kamen. Bei seinem Anblick setzte Máires Herz einen Schlag aus, und sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Verstohlen beobachtete sie LeBelle und verfolgte fasziniert, wie er die tränenüberströmten Umarmungen über sich ergehen ließ und mit allen Konversation machte.
Aus größerer Nähe stellte sie fest, dass er älter war, als sie zunächst angenommen hatte, vierzig oder vielleicht Anfang vierzig, gepflegt und in Berufskleidung: schwarzer maßgeschneiderter Anzug, nicht gerade billig. Mit dem Schwitzen hatte er allem Anschein nach keine Probleme. Auf seinem blassen Gesicht war kein einziger Schweißtropfen auszumachen.
Er rückte seine Krawatte zurecht und drückte mitfühlend die vogelkrallenartige Hand der Witwe. Er war gut, das musste sie ihm lassen, allerdings war es ihrer Meinung nach mit seiner Glaubwürdigkeit so eine Sache: Das Mitgefühl wirkte geheuchelt, der Blick ironisch. Seine Art, das höfliche und freundliche Gehabe, fand Máire viel zu aufgesetzt.
Die Witwe schmiegte sich stumm an ihn, er legte väterlich-behutsam den Arm um sie, und Máire sah, wie seine warmen Worte ihre Seele zu trösten schienen.
Aus einiger Entfernung folgte Máire ihm von seinem Büro bis nach Hause und ein paar Stunden später in eine Bar am Ortsrand von Claxton, wo er allein am Tresen ein Bier trank. Nun trug er eine schwarze Lederhose, Sneakers und ein kurzärmliges schwarzes Hemd. Das passte besser zu ihm als der Bestatteranzug. Sein glattes Haar glänzte und war
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