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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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ruhig«, wiederholte die Tote, nun etwas lauter.
    Máire kam im Jetzt an, die Tote fasste sie leicht an den Schultern und rüttelte sie, und allmählich wurde ihr klar, dass Valerie vor ihr stand.
    Valerie! Máire wollte etwas sagen, aber ihre Zunge fühlte sich an wie ein Störfaktor, der nicht in ihren Mund gehörte.
    Im nächsten Augenblick war alles um sie herum hell, voller bunter Farben und voller Reinheit – so kam es ihr jedenfalls vor, nachdem sie der Dunkelheit im Sarg entstiegen war. Aber es war noch immer Nacht. Das fiel ihr zuerst auf. Die Wolken sahen wie Ascheflocken aus, silbrig-schwarz über den mächtigen Baumkronen – Bäume und Himmel, die sie schon nicht mehr wiederzusehen geglaubt hatte.
    Die Luft war feucht und frisch und roch nach Moos und Ozon – und es gab so viel davon. Sie war außerdem voller Geräusche: Zweige knackten, Grillen zirpten …
    »Es ist überstanden. Aber wir müssen hier weg.« Valerie kniete am Boden und starrte Máire aus großen angstvollen Augen an.
    »Es ist vorbei!«
    Máire musterte ihre erdverschmierte Gestalt. »Okay«, sagte sie.
    Direkt über ihren Köpfen blitzte es, als hätte jemand ein gigantisches Streichholz am Himmel entzündet, gefolgt vom Donner. Die Himmelsschleusen taten sich auf, und plötzlich setzte ein sintflutartiger Regen ein.
    Máire begann unkontrolliert zu zittern, als hätte sie die Grabeskälte mit nach oben gebracht. Regentropfen funkelten in Valeries Haar, und ihre Finger waren schwarz von der Erde. Sie wischte sie rasch an ihrem Totenhemd ab, fasste Máire am Handgelenk und versuchte, ihr aus dem Sarg zu helfen, als sie bemerkte, dass sie an den Knöcheln festgekettet war.
    »NEIN!«, rief sie und dachte, das Herz müsste ihr in der Brust zerspringen. Schluchzend holte sie Luft. »Dieses verfluchte, idiotische …« Dann sackte sie unter Tränen zusammen. »Oh Gott!«
    Máire verscheuchte ihren Schock und ihre Erschöpfung. Sie schnitt eine Grimasse, hob den Zeigefinger und bedeutete Valerie, ihr zuzusehen. Dann beugte sie sich vor und drehte am Zahlenschloss, bekam den rechten Fuß frei und danach den linken.
    Valerie trocknete sich die Augen und rief triumphierend: »Houdini!«
    »Wo ist er?«, fragte Máire gehetzt. Ihre Stimme war heiser und rau und klang, als gehörte sie einer Fremden.
    »Keine Ahnung. Im Wald irgendwo, vielleicht ist er auch zurück zum Haus gegangen. Viel weiter ist er wohl kaum gekommen. Er wird bald merken, dass ich abgehauen bin – wenn er das nicht schon gesehen hat. So viel ist schon mal sicher. Komm, beeil dich. Lass uns von hier verschwinden.« Sie reichte Máire die Hände und half ihr auf.
    Sie kam auf die Beine und sah sich um. »Guck mal!«, sagte sie. »Es brennt!«
    Valerie drehte sich um. Zwischen den Bäumen loderte ein Feuer.
    »Komm, das Haus brennt. Stell dir vor, da sind noch andere drin!« Máire musste schreien, um den Regen zu übertönen.
    Valerie nahm den Hammer und hielt ihn in die Luft. »Den können wir vielleicht noch brauchen!«
    Sie liefen zum Haus zurück, Valerie humpelte mit ihrem gebrochenen Knöchel vorneweg, und Máire folgte ihr dicht auf den Fersen. Hier gab es zahllose Verstecke, wo er sich verbergen konnte, und die beiden schienen zu denken, dass er sie nicht finden könnte, wenn sie nur immer weiter liefen. Bei jedem Schritt, den Valerie machte, schnitt sie eine Grimasse, so sehr schmerzte ihr Fuß. Der Verband war durchnässt und gab keinen Halt mehr. Máire lief nun neben ihr und versuchte, sie zu stützen. Ein einziges Mal blieb Valerie stehen und wollte aufgeben, aber Máire redete ihr gut zu: »Komm. Du schaffst das! Es ist nicht mehr weit.«
    Warmer Regen hüllte die Bäume ein wie ein schwerer Vorhang und dämpfte die Laute des Waldes, während sie sich durch den Wolkenbruch kämpften, der alles noch dunkler erscheinen ließ. Nur die Baumkronen und die silbrigen Moosschleier boten ihnen ein wenig Schutz.
    Schließlich erreichten sie LeBelles Grundstück. Etwa dreißig Meter vom Haus entfernt hielt Máire inne. Durch den strömenden Regen hindurch sahen sie den Lichtschein der Flammen und kurz darauf die Silhouette des Hauses. Es brannte lichterloh. Die obere Etage war komplett ausgebrannt: Die Dachbalken ragten wie unheimliche schwarze Schattenarme in die Nacht. Der Regen hatte das Feuer im Dachstuhl gelöscht und ein verkohltes Gerippe übrig gelassen, das an die Häuser aus einem Tim-Burton-Film erinnerte. Aber sie konnten durch die Fenster im ersten Stock

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