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Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird Kostenlos Bücher Online Lesen
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voreilig in mein Leben gelassen.
    »Woran denken Sie, meine Liebe?«, fragte die Stimme neben mir hörbar besorgt.
    »Hm? Was? Verzeihung«, sagte ich und schob ungewollte Erinnerungen beiseite, um meine volle Aufmerksamkeit wieder der verrunzelten alten Frau zu widmen. Durch eine Reihe von Schläuchen, durch die sie zwangsweise mit wichtigen Nährstoffen versorgt wurde, soweit ihre Adern es zuließen, war sie noch mit dem Leben verbunden.
    Myra Wylies Blick strahlte stille Neugier aus. »Sie waren eine Million Meilen weit weg.«

    »Tut mir Leid. Habe ich Ihnen wehgetan?« Ich ließ die Hände von der Kanüle sinken.
    »Nein, Liebes. Sie könnten mir nicht mal wehtun, wenn Sie sich anstrengen würden. Hören Sie auf, sich zu entschuldigen. Ist alles in Ordnung?«
    »Alles bestens.« Ich wickelte die Decke um ihre Füße. »Sie machen sich erstaunlich gut.«
    »Mit Ihnen, meinte ich. Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
    »Alles bestens«, wiederholte ich, als wollte ich nicht nur sie, sondern auch mich überzeugen.
    »Sie können ruhig mit mir reden. Wenn Sie ein Problem haben.«
    Ich lächelte dankbar. »Das ist sehr nett.«
    »Es ist mein Ernst.«
    »Das weiß ich.«
    »Sie sehen aus, als würden Sie sich immer ganz tiefsinnige Gedanken machen«, bemerkte Myra Wylie, und ich lachte laut. »Lachen Sie nicht. Josh findet das auch.«
    Ich spürte, wie mein Puls schneller zu schlagen begann. »Ihr Sohn denkt, ich hätte tiefsinnige Gedanken?«
    »Das hat er bei seinem letzten Besuch gesagt.«
    Ich fühlte mich beinahe lächerlich geschmeichelt, wie ein Backfisch, der gerade erfahren hat, dass der dumme Junge, in den sie verschossen ist, das Gleiche für sie empfindet. »Nun, es ist fast Mittag. Er müsste jede Minute hier sein.«
    »Er findet Sie sehr nett.«
    Täuschte ich mich oder funkelten Myras wässrige Augen verschmitzt? »Oh, wirklich?«
    »Josh hat jemand Nettes verdient«, sagte Myra wie zu sich selbst. »Er ist geschieden, müssen Sie wissen. Das habe ich Ihnen doch erzählt, oder?«
    Ich nickte, begierig auf weitere Details und trotzdem bemüht, nur mäßig neugierig zu erscheinen.
    »Sie ist mit ihrem Aerobic-Trainer durchgebrannt. Können
Sie sich das vorstellen? Die dumme Gans.« Myra Wylie straffte ihre zerbrechlichen Schultern in rechtschaffener Empörung. »Hat eine Familie zerstört und meinem Sohn das Herz gebrochen, und wofür? Um mit irgendeinem zehn Jahre jüngeren, muskelbepackten Bodybuilder in den Sonnenuntergang zu reiten, der sie dann ein halbes Jahr später – wie sollte es auch anders sein – sitzen gelassen hat? Jetzt sieht sie ihren Fehler natürlich ein, jetzt will sie Josh wieder haben. Aber dafür ist er Gott sei Dank zu klug. Er wird diese Frau nicht noch einmal in sein Leben lassen.« Myras Stimme brach und verlor sich in Besorgnis erregendem Husten und Keuchen wie ein Radiosender bei schlechtem Empfang.
    »Tief durchatmen«, ermahnte ich sie und beobachtete, wie sich ihr Atem nach und nach wieder beruhigte. »So ist es besser. Sie sollen sich nicht so aufregen. Es lohnt sich nicht. Jetzt ist alles vorbei. Sie sind geschieden.«
    »Er wird diese Frau nie wieder in sein Leben lassen.«
    »Bestimmt nicht«, versicherte ich ihr.
    »Er hat jemand Nettes verdient.«
    »Unbedingt.«
    »Jemanden wie Sie«, sagte Myra und fügte hinzu: »Sie mögen doch Kinder, oder?«
    »Ich liebe Kinder.« Ich folgte ihrem Blick zu den beiden silbern gerahmten Fotos ihrer lächelnden Enkel, die auf dem Rollschränkchen neben ihrem Bett standen.
    »Mittlerweile sind sie natürlich älter als zu der Zeit, als die Fotos gemacht worden sind. Jillian ist fünfzehn, und Trevor fast zwölf.«
    »Ich weiß. Ich habe sie schon einmal getroffen«, erinnerte ich sie. »Wirklich entzückende Kinder.«
    »Nachdem Jan sie verlassen hat, sind sie durch die Hölle gegangen.«
    »Ich bin sicher, dass es nicht leicht für sie war.« Es ist nie
leicht, seine Mutter zu verlieren, erinnere ich mich, gedacht zu haben. Egal, wie alt man ist und unter welchen Umständen. Eine Mutter ist eine Mutter, dachte ich und hätte beinahe gelacht. So viel zu meinen tief schürfenden Gedanken. »Ich muss jetzt weiter. Kann ich noch irgendwas für Sie tun, bevor Ihr Sohn kommt?«
    »Kämmen Sie mich doch bitte noch mal, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
    »Es ist mir ein Vergnügen.« Sanft fuhr ich mit dem Kamm über Myras Kopf und beobachtete, wie die zierlichen Strähnen ihres grauen Haars sofort wieder zurückfielen, als wären sie nie

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