Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
hundert Prozent besser aus.«
»Ich fühle mich auch besser«, sagte ich ohne rechte Überzeugung. Worüber hatte Alison mit ihrem Bruder geredet? Was, fragte ich mich, lief genau wie geplant? »Was hast du den ganzen Vormittag gemacht?«, fragte ich stattdessen.
»Zuerst bin ich nach Hause gegangen, hab geduscht und mich umgezogen, und dann« – ein Lächeln breitete sich über Alisons Gesicht, so strahlend, dass es meine Sorgen vorübergehend vertrieb – »hab ich das hier gefunden.« Sie nahm das große, ledergebundene Fotoalbum von dem Kissen neben sich und legte es in ihren Schoß. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Ich bin darauf gestoßen, als ich etwas zum Lesen gesucht habe.« Sie schlug das Album auf. »Sind das deine Eltern?«
Ich starrte auf das alte schwarz-weiß Foto eines lächelnden jungen Paares in einem Schwimmbad, die dünnen Beine meines Vaters ragten aus einer dunklen, schlabberigen Badehose, dazu trug er Slipper und einen Strohhut. Meine Mutter saß in einem schlichten Badeanzug neben ihm, die Hände züchtig im Schoß gefaltet, die Haare hochgesteckt, das schmale Gesicht hinter einer großen Sonnenbrille mit weißer Fassung verborgen. Wie lange hatte ich mir diese Bilder nicht mehr angesehen? Das Album hatte auf dem obersten Regal gelegen. Wie war Alison zufällig darauf gestoßen? »Das sind sie«, sagte ich, strich eine unsichtbare Strähne aus dem Gesicht meiner Mutter und spürte, wie sie meine Hand wegschlug. »Da waren sie noch nicht verheiratet.«
Während Alison die Seiten umblätterte, sah ich meine Eltern vor meinen Augen erwachsen werden, sich von einem schüchternen jungen Liebespaar in verlegene frisch Vermählte und schließlich in nervöse Eltern verwandeln. »Das ist mein Lieblingsfoto.« Alison zeigte auf ein Bild meiner Mutter, die ein Baby mit traurigen Augen an ihre Wange drückte. »Guck mal, wie süß du warst.«
»Von wegen süß. Sieh dir die Ringe unter meinen Augen an.« Ich schüttelte entsetzt den Kopf. »Meine Mutter behauptet, ich hätte bis zu meinem dritten Lebensjahr nicht durchgeschlafen. Und ich hab bis sieben in die Hose gemacht. Kein Wunder, dass sie beschlossen haben, keine weiteren Kinder zu bekommen.«
Alison lachte und betrachtete aufmerksam jede neue Seite. »Welche von denen bist du?«, fragte sie plötzlich und wies auf ein großes Foto einer wie Stiefmütterchen im Garten in ordentlichen Reihen aufgestellten Kindergruppe.
Ich zeigte auf ein kleines Mädchen im weißen Kleid, das mit gerunzelter Stirn in der hintersten Reihe stand.
»Du siehst ja nicht gerade besonders glücklich aus.«
»Ich hab mich nie gern fotografieren lassen.«
»Nicht? Ich liebe es. Oh, guck mal. Bist du das?« Alisons Zeigefinger schwebte über einem kleinem Mädchen in einem karierten Trägerrock, dass mit mürrischer Miene neben ihrer Klassenlehrerin stand.
»Ja, das bin unverkennbar ich.«
»Guck dir das Gesicht an.« Alison lachte. »Auf jedem Bild hast du denselben Ausdruck, sogar als Teenager. Wer von denen ist Roger Stillman?«
»Was?«
»Roger Stillman. Ist er auf einem dieser Bilder?«
»Nein, er war ein paar Klassen über mir«, erinnerte ich sie.
»Schade. Ich hätte gern gewusst, wie er aussieht. Was glaubst du, was aus ihm geworden ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Denkst du nicht manchmal daran, einfach zum Telefon zu greifen und ihn anzurufen? Einfach zu sagen: ›Hi, Roger Stillman, hier ist Terry Painter. Erinnerst du dich noch an mich?‹«
»Niemals«, sagte ich lauter als beabsichtigt.
»Glaubst du, er lebt noch in Baltimore?«
Ich zuckte gleichgültig die Achseln, blätterte die Seite um und sah meine Eltern nun in Farbe und Hochglanz im Vorgarten ihres ersten Hauses in Delray Beach stehen. Sie wirkten ein wenig steif, als wüssten sie, dass schwierige Zeiten bevorstanden. »Könntest du mir noch einen Becher Tee machen?«, fragte ich.
»Mit dem größten Vergnügen.« Alison erhob sich vom Sofa. »Wie wär’s mit einem Toast mit Marmelade dazu?«
»Warum nicht?«
»Das ist die richtige Einstellung.«
Ich lehnte meinen Kopf an den burgunderroten Samtbezug des Sofas, schloss die Augen und hörte Alisons leise Stimme im Ohr. Alles läuft genau wie geplant , schnurrte sie. Und dann eine andere Stimme: Ich habe eine Nachricht von Erica Hollander für Sie , flüsterte der Fremde mir ins Ohr. Sie sagt, Sie sollen gut auf sich aufpassen .
Doch ich war zu müde und zu schwach, um darauf zu hören.
11
Die Zeit zwischen
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