Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
um jeden fremden Laut wahrzunehmen – den Schritt eines verirrten Fußes, ein schweres Atmen -, irgendetwas Ungewöhnliches.
Doch da war nichts.
Ich schüttelte den Kopf und begann, den Flur hinunterzugehen, wobei ich auf dem Weg in jedes freudlose Zimmer schaute und nach meinen Patienten sah. Nur Eliot Winchell, ein Mann mittleren Alters, der nach einem scheinbar harmlosen Sturz von einem Fahrrad auf den Bewusstseinsstand eines Kleinkinds zurückgeworfen war, war noch wach und winkte, als er mich sah.
»Frohes neues Jahr, Mr. Winchell«, sagte ich und überprüfte automatisch seinen Puls. »Kann ich irgendwas für Sie tun?«
Er lächelte sein unheimliches Kinderlächeln und sagte gar nichts.
»Müssen Sie vielleicht auf die Toilette?«
Er schüttelte den Kopf, während sein Lächeln breiter wurde, sodass seine Zähne im Halbdunkel des Zimmers aufblitzten.
»Dann versuchen Sie jetzt zu schlafen, Mr. Winchell. Morgen wird ein sehr geschäftiger Tag.« Das bezweifelte ich, aber welchen Unterschied machte das schon? Für den Rest
von Mr. Winchells Lebens würde jeder seiner Tage ziemlich genauso sein wie der vorige. »Warum haben Sie auch keinen Helm getragen, Eliot?«, tadelte ich ihn im Tonfall meiner Mutter und sah, wie das kindische Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. »Schlafen Sie jetzt«, fügte ich sanfter hinzu, tätschelte seinen Arm und vergewisserte mich, dass er gut zugedeckt war. »Bis morgen.«
Sobald ich in den Flur trat, hörte ich das Geräusch wieder.
Ich fuhr herum, und mein Blick zuckte hin und her, den hell erleuchteten Flur hinauf und hinunter. Doch wieder war da nichts. Ich hielt den Atem an, wartete und versuchte vergeblich zu ergründen, was genau ich zu hören geglaubt hatte. Jedenfalls nichts, was ich konkret hätte benennen können, nichts bis auf ein vages Unbehagen.
»Es ist nichts«, sagte ich laut, als ich an Sheena O’Connors ehemaligem Zimmer vorbeiging. Sheena war nicht mehr Patientin der Mission-Care-Klinik. Ihre Ärzte waren der Ansicht gewesen, dass ihre Erholung so weit fortgeschritten war, dass sie entlassen werden konnte. Vorgestern hatten ihre Eltern sie abgeholt.
»Ist das nicht toll? Silvester bin ich wieder zu Hause«, rief sie.
»Pass gut auf dich auf«, ermahnte ich sie.
»Wir bleiben doch in Kontakt, oder? Sie kommen mich doch besuchen?«
»Natürlich«, sagte ich, obwohl ich glaube, wir wussten beide, dass wir uns nie wiedersehen würden, sobald sie die Klinik verlassen hatte.
Sie umarmte mich. »Ich ruf Sie jedes Mal an, wenn ich nicht schlafen kann«, warnte sie mich. »Damit Sie mir was vorsingen.«
»Du wirst bestimmt ganz wunderbar einschlafen können.«
Was machte sie jetzt, fragte ich mich, als ich zum Schwesterntresen
zurückkehrte und merkte, dass ich es vermisste, jemanden zu haben, dem ich etwas vorsingen konnte.
An Feiertagen war nur eine Minimalbesetzung im Dienst. Beverly und ich waren die einzigen Krankenschwestern auf der gesamten Etage. Ganz alleine wäre es mir ehrlich gesagt noch lieber gewesen. Dann hätte ich die ersten Momente des neuen Jahres nicht mit langweiligem Smalltalk zubringen oder vorgeben müssen, mich für Beverlys atemberaubend dämliche Probleme zu interessieren. Niemand würde Ratschläge von mir erwarten, die er dann doch nicht befolgte. Ich könnte einfach die Zeit für mich genießen. Die Wahrscheinlichkeit eines Notfalls war gering, und Ärzte waren in Rufbereitschaft, wenn ich sie brauchte. Ein hochgejubelter Babysitter , mehr bist du nicht, hallte das Flüstern meiner Mutter in meinem Kopf wider.
»Hast du irgendwas gehört?«, fragte ich Beverly, um die Stimmer meiner Mutter zu übertönen.
»Was soll ich denn gehört haben?« Beverly blickte von der Doppelnummer des People -Magazins auf, in der sie geblättert hatte, und spitzte die Ohren. »Ich höre gar nichts.«
Ich zuckte, wenngleich nicht restlos überzeugt, die Achseln. Die Stille der Nacht dröhnte in meinem Kopf wie ein Hammer.
»Das ist bloß deine blühende Fantasie«, erklärte Beverly.
Und ich hatte weiß Gott jede Menge Fantasie, dachte ich. Jawohl, jede Menge Fantasien.
Und kein Leben.
Die Menschen, die den Flur hinunter in ihren Zimmern starben, hatten mehr Leben als ich. Myra Wylie war uralt, Herrgott noch mal, hatte Leukämie und eine Herzschwäche, doch der Gedanke an Sex zauberte nach wie vor ein versonnenes Lächeln in ihr Gesicht. Vor zehn Jahren, vor zehn Jahren , war sie immer noch sexuell aktiv gewesen! Und hier stand ich,
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