Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
haben?«, fragte Sanna.
»Nein, so was tue ich nicht. Um Himmels willen, alles hat seine Grenzen. Ich arbeite doch nicht für die Bild -Zeitung.«
Trotzdem klang sie enttäuscht. Sanna fragte sich, ob sie vielleicht gehofft hatte, die Berichterstattung für eine große Zeitung machen zu dürfen. Tante Renate hatte nie darüber geredet, was damals eigentlich der Grund für ihren Absturz gewesen war. Die Scheidung von ihrem Mann und die Schulden, die ihr über den Kopf gewachsen waren, erklärten ihn nicht vollends. Da musste noch etwas anderes gewesen sein. War es wirklich eine freie Entscheidung gewesen, nach Marienbüren zu gehen? Oder träumte ihre Tante heimlich davon, eines Tages zu einer großen Zeitung zurückzukehren?
»Sanna, Schatz, ich muss jetzt los. Willst du wirklich nicht mitkommen? Das wird bestimmt ganz reizend sein. Die anderen Mütter sind richtig nett. Deine letzte Chance.«
»Nein, Tante Renate. Wirklich nicht. Aber vielen Dank.«
»Also gut. Dann sehen wir uns am Montag. Um Punkt acht hole ich dich ab.«
Nach dem Telefonat stellte sich Sanna wieder ans Fenster und sah hinaus. Was wäre gewesen, fragte sie sich, wenn ihr Vater damals nicht nach Berlin gegangen wäre, um eine neue Stelle anzunehmen? Dann wäre sie hier aufgewachsen. Wer konnte schon sagen, was dann gewesen wäre. Vielleicht wäre alles ganz anders geworden. Vielleicht wäre Jannis nie auf die Idee gekommen, mit ihr nach Kroatien in den Urlaub zu fahren.
Eine Freundin, deren Vater im vergangenen Jahr gestorben war, hatte Sanna mal erzählt, sie wäre nach seinem Tod jede Nacht mit der festen Überzeugung aufgewacht, ihr Vater stünde im Schlafzimmer neben ihrem Bett. Sie musste jedes Mal das Licht einschalten, um sich selbst eines Besseren zu belehren. Natürlich war er nie da gewesen. Trotzdem war das eine ganze Weile so weitergegangen, bis ihre Freundin den Vater eines Nachts lautstark weggeschickt hatte. Erst danach war das Gefühl verschwunden, er könnte anwesend sein. Seltsame Streiche kann die Psyche einem spielen, war Vincents Kommentar gewesen. Doch Sanna war mit ihren Gedanken bei Jannis gewesen. Er war nie aufgetaucht. Nicht einmal in ihren Träumen. Er hatte sie alleingelassen, für immer. Sanna fragte sich, ob es wohl deshalb war, weil sie ihn hatte sterben lassen. Ob auch er ihr die Schuld an seinem Tod gab.
Jannis. Da war er wieder. Natürlich verfolgte sein Tod sie auch hierher. Die leere Wohnung war eine Illusion. Es gab keinen Neustart. Nicht für sie. Ihre Schuld würde sie überallhin begleiten.
Sie setzte sich aufs Sofa und zappte durch die Programme, bis sie endlich keine Bilder mehr vom Erdrutsch sah. Bei einer Soap blieb sie hängen. Eine Frau traf sich heimlich mit ihrem Liebhaber, es gab leidenschaftliche Küsse und Liebesschwüre bei Kerzenlicht. Der Regen wurde wieder stärker und prasselte gegen Sannas Fenster. Eine Weile folgte sie dem Geschehen auf dem Bildschirm. Doch irgendwann fielen ihr die Augen zu, und sie schlief endlich ein.
Das Stift Marienbüren. Eine alte Klosteranlage am Fuße eines bewaldeten Hangs. Die Grundmauern der ältesten Gebäude waren beinahe tausend Jahre alt, und ein Spaziergang über das Gelände war wie eine Reise durch die Architekturgeschichte. Vom gemauerten Gesindehaus an der Ostseite über die verputzte Fachwerkscheune am Fischteich bis hin zu der romanischen Sandsteinkapelle war alles anzutreffen, was für die Gegend typisch war. Die hohe moosbewachsene Klostermauer, die das Gelände umgab, erinnerte an eine Zeit, in der rundherum noch endlose dunkle Wälder das Bild beherrschten und Mauern zum Schutz gegen wilde Tiere gebaut wurden. Heute waren die Wälder großteils gerodet, Wiesen und Felder und asphaltierte Straßen bestimmten das Bild und überall waren Bauernhöfe verstreut. Dennoch lag das Stift Marienbüren immer noch ein wenig abseits von allem.
Sanna verabschiedete sich von Tante Renate, die sie hergefahren hatte, warf die Autotür zu und betrat das Gelände durch das steinerne Tor. Der weitläufige Klosterhof sah ziemlich mitgenommen aus. Das Unwetter hatte auch hier gewütet. Die Blumenbeete waren ruiniert, überall lagen Haufen aus Schlamm und Blättern und Zweigen herum und der Schotter der Auffahrt war einem schmutzigen ausgetrockneten Flussbett gewichen. Auch wenn das Wasser inzwischen fort war, ließen sich die Schäden überall bestaunen.
Ein Mensch war jedoch nirgends zu sehen. Bewohner und Betreuer hockten um diese Uhrzeit wahrscheinlich
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