Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
im Frühstückssaal. So menschenleer wirkte das Kloster wie eine verwunschene Burg. Dunkle zerklüftete Wolken zogen über die bewaldeten Hänge hinweg, doch schien vorerst kein Regen mehr zu fallen. In der kühlen feuchten Luft hatte sich Nebel gebildet, der über die Klostermauer hinweg auf das Gelände zog.
Sanna trat an ein ehemaliges Stallgebäude heran, in dem ein Schwimmbecken und eine Sporthalle untergebracht waren. Ihr zukünftiger Arbeitsplatz. Das Wasser hatte die Außenmauer kniehoch mit Schlamm bespritzt, doch weitere Schäden hatte das Gebäude nicht davongetragen. Die Turnhalle schien unversehrt zu sein. Ein gutes Zeichen. Auf Zehenspitzen stakste sie über das Schlammfeld und steuerte das Portal am Hauptgebäude an. Im Verwaltungstrakt wollte sie sich bei Erika Eckart melden, der Leiterin der Einrichtung.
Sanna fühlte sich noch immer gerädert. Sie hatte in der vergangenen Nacht nicht viel Schlaf bekommen. Die Ereignisse am Hang zerrten weiterhin an ihren Nerven. Der Erdrutsch, die Kinderleiche, das alles war zu viel für sie gewesen. Mehrmals hatte sie in der Nacht von dem toten Mädchen geträumt. Es hatte die Ärmchen nach ihr ausgestreckt und sich wie ein Zombie auf sie zubewegt. Aus den schwarzen Augenhöhlen hatten sie Kälte und Tod angeglotzt. Sanna war jedes Mal mit einem Schrei aufgewacht.
In der Nacht war ihr aufgefallen, wie still es in Marienbüren sein konnte. Auf dem Kirchplatz stand eine einzelne Laterne, die ihr schwaches Licht durch Sannas Fenster warf. Doch Geräusche gab es keine. Das kannte Sanna so gar nicht. In Berlin wurden selbst die Nächte vom endlosen Brummen des Verkehrs begleitet. Auch in ruhigen Wohnvierteln brannte immer hinter irgendwelchen Fenstern Licht. Es gab Nachtschwärmer, Schichtarbeiter und Hundebesitzer, die unterwegs waren. Irgendwo war immer Leben. Doch nicht so in Marienbüren. Hier konnte die Nacht geradezu gespenstisch sein.
Der Albtraum, in dem das tote Mädchen aufgetaucht war, hatte sich so realistisch angefühlt, dass es Sanna schwergefallen war, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Obwohl das natürlich Unsinn war, hatte sie im Flur das Licht brennen lassen, um die Nerven zu beruhigen und wenigstens ein bisschen Schlaf zu finden.
Sie überquerte jetzt den stillen und kühlen Klosterhof und erreichte das Eingangsportal. Ausgetretene Sandsteinstufen führten zu einer uralten, beschlagenen Holztür. Steinerne Figuren und Ornamente schmückten den Türbogen darüber. Die Klingel in dem Plastikgehäuse wirkte neben der uralten Tür wie ein Fremdkörper.
Sanna hielt inne und sah sich um. Da war eine Bewegung im Augenwinkel gewesen. Zwischen zwei Gebäuden führte ein Weg in den Garten. Sattes grünes Gras wucherte überall. Ein paar Fichten standen aufgereiht, die mit ihren ausladenden Zweigen den Nebel auffingen. Es tropfte und plätscherte.
Sanna fixierte Nadelbäume. Und dann sah sie ihn. Ein junger Mann, ganz schlank und zerbrechlich, der halb verborgen hinter ein paar Zweigen stand und scheu zu ihr herübersah. Schwarzes Haar, blasse Haut und große sinnliche Lippen. Am auffälligsten waren seine leuchtend blauen Augen. Es lag so viel Verletzlichkeit darin, dass es ihr einen Stich versetzte.
Sie machte einen Schritt auf ihn zu.
»Hallo«, rief sie. »Ich bin Sanna.«
Er riss erschrocken die Augen auf. Sanna näherte sich vorsichtig. Einen Moment lang fürchtete sie, er würde wie ein Rehkitz Reißaus nehmen und durchs Gebüsch davonspringen. Doch dann blieb er, wo er war, bewegte sich nicht vom Fleck. Sie lächelte.
»Ich bin die neue Leiterin für die Sportkurse«, sagte sie. »Wohnst du hier im Stift? Dann kannst du heute zu meiner Feldenkrais-Stunde kommen, wenn du Lust hast. Die fängt nämlich gleich an. Ich würde mich sehr freuen.«
Er starrte sie wortlos an. Schien gar nicht zu begreifen, was sie sagte. Sanna lächelte. Dann machte sie einen weiteren Schritt auf ihn zu. Und da passierte es: Er stolperte zurück und trat eilig die Flucht an. Mit seinen großen Augen warf er ihr noch einen ängstlichen Blick zu, dann verschwand er hinter den Fichten. Sanna sah ihm ratlos hinterher.
»Wie ich sehe, haben Sie sich schon mit unserem Neuzugang bekannt gemacht«, sagte eine Stimme fröhlich hinter ihr.
Sanna drehte sich um. Erika Eckart stand vor dem Eingangsportal, in der Hand eine zerbeulte Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug. Sannas vergeblicher Versuch, mit dem scheuen Jungen in Kontakt zu treten, schien sie zu
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