Schlafende Geister
über stetig um die vierzig Meilen pro Stunde und schaffte es ohne Unfall und ohne von der Polizei angehalten zu werden bis nach Hause. In den Fenstern von Bridgets Wohnung sah ich Licht und der Wagen von ihrem Freund parkte vor dem Haus. Als ich hineinging, hörte ich oben seichte Musik.
Ich schloss meine Wohnung auf, ging ins Wohnzimmer und schenkte mir ein Glas Whisky ein. Dann trank ich die Hälfte, schenkte noch einmal nach, zündete eine Zigarette an und ging ins Bad. Als ich mich im Spiegel ansah, war ich überrascht, dass mein Gesicht nicht allzu übel zugerichtet wirkte. Seitlich am Kopf, dort, wo mich der erste Schlag getroffen hatte, gab es eine hässliche rote Schwellung, über dem linken Auge einen tief klaffenden Riss und an der Nasenwurzel eine hässliche Wunde. Doch davon und von der geplatzten Unterlippe abgesehen sah es längst nicht so schlimm aus, wie es hätte sein können.
Ich trank noch mehr Whisky, und als ich plötzlich einen leichten Abdruck in der geschwollenen roten Haut seitlich an meinem Gesicht entdeckte, beugte ich mich näher an den Spiegel heran. Als ich noch genauer hinschaute, konnte ich sogar den Umriss eines ringgroßen Schädels erkennen, der sich in meine verletzte Haut eingegraben hatte. Aus irgendeinem Grund sah ich mich einen Moment lang lächeln … aber es dauerte nicht lange. Das Lächeln schmerzte zu sehr.
Ich drehte mich zur Seite und untersuchte vorsichtig meinen Hinterkopf. Er fühlte sich ungut an – geprellt, geschwollen, bei jeder Berührung schmerzend –, und als ich die Hand wegzog, war sie voll Blut. Auch der restliche Körper war in einem wüsten Zustand – Bauch, Flanken, Schultern, Beine … alles tat höllisch weh. Ich öffnete das Schränkchen über dem Waschbecken, fand ein paar Schmerztabletten und kippte sie mit einem ordentlichen Schluck Whisky runter. Dann stellte ich die Dusche an und ließ sie so heiß laufen, wie es nur ging, und während sich Dampf bildete, der den Spiegel benetzte und meine Poren öffnete, zog ich mich aus und schaute an meinem misshandelten Körper herunter. Er war übel zugerichtet – geschwollen und verfärbt, überall Blutergüsse, die Haut aufgerissen und an manchen Stellen wundrot –, aber auch hier schien es keine ernsten Verletzungen zu geben.
Ich rauchte zu Ende, warf die Zigarettenkippe ins Klo und stellte mich unter die Dusche.
Ich stand eine Ewigkeit so da und ignorierte den Schmerz, als das Wasser Blut und Dreck von der Haut spülte, dann stellte ich die Dusche auf kalt, so lange, wie ich es aushielt, was nicht sehr lange war, schließlich trat ich hinaus und trocknete mich vorsichtig ab, zog meinen zerschlissenen alten Bademantel über, ging zurück ins Wohnzimmer und sank in den Sessel unter dem hohen Fenster.
Noch ein Glas Whisky, noch eine Zigarette …
Ich sah auf die Uhr.
Es war kurz nach Mitternacht.
Regenscheckiges Laternenlicht schimmerte durch das Fenster herein und erhellte die Dunkelheit gerade genug, dass ich die Formen erkennen konnte – Regale, Möbel, Wände. Dinge. Ich warf erneut einen Blick auf die Uhr, beobachtete, wie der Zeiger seinen langsamen, unsichtbaren Kreis zog …
Ein Augenblick Zeit – weg.
Und wieder einer.
Und wieder.
Und wieder …
Die Sekunden zogen vorbei, nahmen zu viel fort.
Nahmen nichts fort.
Ich war müde. Mein Schädel pochte. Ich wollte die Augen schließen und erst dann wieder öffnen, wenn alles in Ordnung war. Aber ich wusste, dass nie alles in Ordnung sein würde.
Ich wollte an nichts denken – nicht an Anna Gerrish, nicht an ihre Mutter, ihren Vater … nicht an Genna Raven, an den silbergrauen Renault, an die gesichtslosen Männer, die mich zusammengeschlagen hatten. Ich wollte mich nicht fragen, wer sie waren oder wieso sie mich überfallen hatten. Aber was sonst hätte ich tun können?
Gerade als ich anfing, eben doch darüber nachzudenken, drangen gedämpfte Sexgeräusche durch die Decke. Rhythmisches Quietschen und Stöhnen – aah, aah –, die Geräusche sich paarender Körper.
Bridget und Dave.
Ich stellte den Fernseher an, drehte die Lautstärke auf und zappte durch die Kanäle, bis ich etwas fand, das mich nicht allzu sehr störte. Es war ein alter Film, ein Western – entweder Rio Bravo oder El Dorado , ich kann die beiden nie richtig auseinanderhalten. Das hier war der mit John Wayne, Dean Martin und Ricky Nelson … nicht dass das wirklich wichtig war. Ich stellte den Fernseher laut genug, um die Geräusche von oben zu
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