Schlafende Geister
eine Liste mit Telefonnummern, die ich anrufen sollte, und der Zettel, den George erwähnt hatte – eine Zusammenstellung der Anrufe, die Ada am Morgen entgegengenommen hatte.
All das konnte warten.
Ich ging in mein Büro, schloss die Jalousie und schenkte mir einen Drink ein. Dann schaute ich auf die Uhr an der Wand. Tick, tack …
Es war 15.45 Uhr
Ich setzte mich aufs Sofa und schloss die Augen.
Aufgeschnitten auf dem Bett. Nackt.
Abgeschlachtet.
Ausgeblutet.
Tot.
Ich halte Stacys zerstörten Körper in meinen Armen, heule und schluchze … halte sie für immer fest, für immer, es ist das Einzige, was ich tun kann. Ich kann sie nicht loslassen. Ich kann sie nicht genug festhalten …
Ich schaffe es nicht.
Es ist nichts mehr da.
Nach einer zeitlosen Zeit – tausend Jahren, einer Minute, einem Tag – wische ich ihr eine Blutschliere aus dem Gesicht, küsse ihre kalten Lippen und verabschiede mich flüsternd. Ich muss jetzt loslassen, Stacy. Nur eine Weile. Ich muss die Polizei rufen. Ich will nicht. Ich will bei dir bleiben, dich in meinen Armen halten … ich will dich nicht loslassen. Aber ich weiß, wenn ich jetzt hierbleibe, bleibe ich für immer hier, und dann könnte ich genauso gut tot sein. Und tot sein ist im Moment nicht das Richtige für mich. Noch nicht. Ich muss mich um das Geschäft des Todes kümmern.
Ich öffnete die Augen, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und trank schaudernd einen tiefen Schluck aus der Whiskyflasche. Eine Flut von Erbärmlichkeit stieg in mir hoch, ein so fürchterliches und verzweifeltes Gefühl, dass es sich jeder Logik und Vernunft widersetzte. Stacy war tot … für immer. Das Kind, das sie im Leib trug, unser Kind, war tot …
Für immer.
Erneut stiegen mir Tränen in die Augen, als ich zu dem Wandsafe hinüberging, ihn öffnete und die Pistole meines Vaters herausnahm. Ich entsicherte sie, ging zurück zum Sofa, saß eine Weile mit der Waffe in der Hand da und fragte mich – was ich mich so oft gefragt hatte –, wie mein Vater an die Pistole gekommen war. Hatte er sie gekauft? War es eine Polizeiwaffe? Hatte er sie schon seit Jahren gehabt oder hatte er sie sich extra beschafft, um sein Leben zu beenden?
Ich überlegte, was das für ein Gefühl wäre, mir den Lauf an den Kopf zu halten und behutsam abzudrücken.
Es wäre gar kein Gefühl , sagte ich mir.
Es wäre überhaupt kein Gefühl.
Zwanzig Minuten später sicherte ich die Pistole wieder, legte sie zurück in den Wandsafe und zündete mir stattdessen eine Zigarette an.
11
Als ich aufwachte, war das Büro dunkel und ruhig, das ganze Gebäude schien in eine nervöse Art von Stille getaucht, als seien die Zeit und der Ort nicht dazu gedacht, von irgendwem wahrgenommen zu werden. Ich hörte das Knistern des Regens am Fenster, das unbekümmerte Brummen eines Wasserrohrs, ein leises, stöhnendes Knarzen von irgendwo unten …
Es gibt keine Stille, nirgends. Wenn du genau genug lauschst, hörst du immer das Geräusch der Maschine unter deiner Haut.
Ich griff nach meinem Whiskyglas, nahm einen großen, langsamen Schluck und genoss die gemächlich sich ausbreitende Wärme des Alkohols.
Mein Kopf tat weh.
Meine Beine schmerzten.
Es war 20.55 Uhr.
Zeit, aufzustehen.
Ich zündete eine Zigarette an und versuchte, mich zu erinnern, wo ich meinen Wagen stehen gelassen hatte.
Ungefähr eine Stunde später, nachdem ich zum Blue Boar zurückgelaufen war, um den Wagen zu holen – und unterwegs nur an einem Geldautomaten und auf ein paar Drinks im Pub haltgemacht hatte –, fuhr ich langsam eine Straße mit endlosen Reihenhäusern entlang, die hinter dem Fußballplatz entlangführte. Die London Road sah wie die meisten Wohnstraßen im Süden der Stadt aus – parkende Autos, Satellitenschüsseln, Gehwege, die im Licht der Straßenlaternen fade schimmern – und tagsüber konnte man nicht erkennen, dass sie mit ein paar anderen Straßen das Zentrum des Rotlichtbezirks von Hey bildete. Nachts aber, besonders spätnachts, wenn die schlanken jungen Mädchen auf der Straße erscheinen und die Männer in ihren Wagen umherschleichen … tja, dann ist es leicht zu sehen, was los ist.
Ich hatte noch keine Mädchen an der Straße stehen sehen, aber nachdem es immer noch regnete, würde ich die meisten wahrscheinlich oben an der Eisenbahnbrücke am anderen Ende der London Road finden.
Ich fuhr weiter und hielt dabei im Rückspiegel immer Ausschau nach dem Renault. Ich war mit
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