Schlafende Geister
den Augen jetzt stets auf der Hut, und auch wenn ich den Wagen, nachdem ich zusammengeschlagen worden war, nicht mehr gesehen hatte, wollte ich kein Risiko eingehen.
Auf halber Höhe der London Road sah ich mehrere Mädchen, die unter den Bögen nahe der Eisenbahnbrücke herumhingen, einige andere suchten Schutz in der Unterführung selbst. Ich schaute in den Spiegel, sah aber nichts als den Regen und eine leere Straße, deshalb bremste ich und hielt am Straßenrand an. Ich stellte den Motor ab, zündete eine Zigarette an und wartete.
In den nächsten paar Minuten fuhren verschiedene Autos an den Mädchen vorbei und weiter unter die Brücke. Einige wurden auch vorübergehend langsamer, weil die Fahrer durch die Autoscheibe gafften, und ein paar blieben tatsächlich stehen. Eines der Mädchen, das ich in ein Auto einsteigen sah, konnte nicht älter als sechzehn sein.
Nach einem letzten Blick über die Schulter stieg ich aus – zufrieden, dass kein silbergrauer Renault in Sicht war – und lief Richtung Brücke.
Ich bin mir nicht sicher, was für eine Reaktion ich von den Mädchen erwartete, doch nachdem sie merkten, dass ich weder ein Freier noch ein Bulle war und nur etwas über Anna wissen wollte – wofür ich bereit war, ziemlich gut zu bezahlen –, waren die meisten ganz freundlich. Das einzige Problem war, dass viele, wenn nicht alle irgendwelche Drogen nahmen – Heroin, Crack, Crystal Meth – und normalerweise ziemlich zugedröhnt waren, wenn sie anschaffen gingen, was sie nicht gerade zu guten Zeugen machte. Auch ohne dass ich ihnen das Foto zeigte, wussten die meisten Mädchen, wer Anna war und dass sie als vermisst galt. Aber damit hatte es sich auch schon. Eines der Mädchen sagte: »Sie war nur manchmal da. Eine Zeit lang jede zweite Nacht, dann wochenlang gar nicht mehr, aber irgendwann tauchte sie auf einmal wieder auf.«
Als ich das Mädchen, das Lizzie hieß, fragte, was Anna für ein Mensch sei, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte: »Mann, keine Ahnung … ich glaub nicht, dass die je ein Wort mit mir gesprochen hat. Die wollte einfach keinen Kontakt, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Erinnerst du dich noch an die Nacht, als sie verschwand? Das war der 6. Dezember, ein Montag.«
Lizzie lachte. »Machst du Witze? Ich kann mich nicht mal erinnern, was heute Morgen war.«
Auch als ich die andern Mädchen befragte, kam immer dieselbe Geschichte heraus – sie war nicht ständig hier, sie redete mit niemandem, wenn sie hier war – und ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, da kam plötzlich Lizzie noch mal zu mir und meinte, ich sollte mit einem Mädchen namens Tasha reden.
»Keine Ahnung, ob sie mehr weiß als wir andern«, sagte Lizzie. »Aber ich erinnere mich, dass sie ein paar Mal mit Anna geredet hat … deshalb, du weißt schon …« Sie lächelte mich an. »Hast du ’ne Zigarette?«
Ich zog meine fast leere Schachtel heraus, steckte einen Zwanzig-Pfund-Schein rein und gab sie ihr.
»Und wo finde ich diese Tasha?«, fragte ich.
Lizzie nickte in die Richtung des Tunnels. »Die links, die Blonde.«
Aus der Ferne sah Tasha wie eine ganz normale – wenn auch etwas leicht bekleidete – Fünfzehnjährige aus, und ich nehme an, das war Absicht. Doch wenn man näher kam, wirkte sie nicht ganz so jung. Sie war stark geschminkt – rosa Lippenstift, schwarzer Eyeliner – und die blonden Haare waren gefärbt, an den Wurzeln schimmerte die dunklere Farbe durch. Sie trug eine abgewetzte Jeansjacke über einem schwarzen Minirock und einem tief ausgeschnittenen Top, schwarze Strümpfe und knielange hochhackige Stiefel. Unter dem Make-up wirkte ihr einst schönes Gesicht müde und ausgemergelt. Sie kaute Kaugummi und rauchte Kette.
Als ich auf sie zutrat, sagte sie nichts, sondern sah mich nur an – als wär ich ihr scheißegal – und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. Ich erklärte ihr, wer ich war und was ich machte, dann fragte ich sie, ob sie sich an Anna Gerrish erinnere.
»Ja«, sagte sie. »Ich erinnere mich an Anna.«
»Wart ihr befreundet?«
»Nein.«
Ich nickte. »Lizzie hat mir erzählt, dass du manchmal mit ihr geredet hast.«
»Ja?«
»Worüber habt ihr geredet?«
Ein Auto fuhr langsam vorbei, ein Vauxhall Astra, und der Fahrer nahm Tasha unter die Lupe. Tasha starrte mit einem Blick zurück, aus dem halb Erwartung, halb Verachtung sprach, doch der Wagen blieb nicht stehen. Sie drehte sich wieder zu mir um. »Wieso soll ich dir das
Weitere Kostenlose Bücher