Schlafende Geister
hatte ich Richey in einem besetzten Haus in Nord-London aufgespürt, und nachdem ich sicher war, dass er von den Fotos keine Kopien gemacht hatte, stahl ich sie einfach zurück und gab sie Cliff wieder.
Er war so unglaublich erleichtert, dass er mir nicht nur ein sehr großzügiges Honorar bar auf die Hand zahlte, sondern auch versprach, wenn er je etwas für mich tun könne, müsse ich ihn einfach nur fragen. Wahrscheinlich bereute er sein Angebot, als ich ihn gleich darauf bat, herauszufinden, was mit der Pistole geschehen sei, mit der sich mein Vater umgebracht hatte, und sie mir wiederzubeschaffen. Doch er brach sein Versprechen nicht. Es dauerte eine Weile und ich bin mir noch immer nicht sicher, wo er sie herhatte, aber er brachte sie mir.
Bis heute hat Cliff nie gefragt, wieso ich sie haben wollte. Und mir wäre auch nichts eingefallen, was ich ihm hätte antworten können.
Es war kurz vor zwei, als Cliff schließlich im Blue Boar auftauchte. Da war der größte Mittagsansturm bereits vorbei und der Pub leerte sich langsam. Es war ein kleines Lokal in einer stillen Seitenstraße im Dutch Quarter, einem alten Teil der Stadt, der bekannt ist für seine steilen Kopfsteinpflasterstraßen und schmalen Häuser.
Ich saß an einem Tisch ganz am Ende des Raums, als Cliff hereinkam. Ich hob die Hand, um ihm zu zeigen, wo ich war, und beobachtete ihn, als er herüberkam. Er sah fertig aus, wie jemand, der längst aufgegeben hat und dem nichts mehr etwas bedeutet. Sein Gesicht mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln und den hängenden Wangen wirkte schwermütig. Auch seine gebeugte Körperhaltung strahlte etwas Resigniertes aus. Das ganze Äußere entsprach dem, was er war: ein Trinker, der gerade noch in der Arbeit zurechtkam.
Ich hatte schon einen großen Scotch für ihn auf dem Tisch stehen, und sobald er mir die Hand geschüttelt und sich hingesetzt hatte, nahm er das Glas, trank einen Schluck und stellte das Glas wieder ab, nur um es sofort noch einmal zu nehmen, einen weiteren Schluck zu trinken und diesmal das Glas zu leeren.
»Willst du noch einen?«, fragte ich ihn.
Er nickte. »Wieso eigentlich nicht.«
Ich ging an den Tresen und bestellte noch einen großen Teacher’s für Cliff und ein Stella für mich, dann trug ich die beiden Gläser zurück an den Tisch.
»Danke«, sagte Cliff und nahm mir das Glas ab. »Prost …«
Ich stieß mit ihm an und trank einen Schluck Bier. »Und«, sagte ich. »Wie läuft’s, Cliff?«
Er zuckte die Schultern. »Na ja … du weißt schon.«
»Wie geht’s deiner Frau?«
»Sie hat mich letztes Jahr verlassen.«
»Ach so … tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
Er zuckte wieder die Schultern und nahm noch einen Schluck.
Ich sagte: »Und Richey? Wie geht’s dem inzwischen?«
»Weiß der Teufel … hab ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Er könnte auch tot sein, keine Ahnung.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also trank ich mein Bier und antwortete nichts.
Cliff sah mich an und ein trauriges Lächeln hellte sein Gesicht ein wenig auf. »Schon gut, John«, sagte er freundlich. »Du kannst dir diese Small-Talk-Scheiße sparen … bringt doch keinem von uns was.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Er nickte. »Okay, lass mich noch eine Runde Drinks holen und danach sagst du mir einfach, was du von mir willst.«
»Nein, lass mal«, sagte ich und nahm ihm sein Glas ab. »Ich geh schon.«
Er fing an zu protestieren, aber nur halbherzig – er hatte nicht mehr genug Stolz, um sich um so was wie Stolz zu kümmern.
Es dauerte nicht lange, Cliff zu erzählen, woran ich arbeitete. Er war ein guter Zuhörer und musste nicht alles erklärt bekommen. Und natürlich wusste er schon, wer Anna Gerrish war. Hintergrundwissen hatte er allerdings keines.
»Tut mir leid, John«, sagte er mir. »Aber ich hatte nichts mit dem Fall zu tun. Ehrlich gesagt hatte ich nicht mal davon gehört, bis die Gazette die Geschichte brachte.«
»Hat Mick Bishop sofort die Ermittlung übernommen?«
Cliff dachte einen Augenblick darüber nach, während sein schwankender Blick durch den Raum schweifte, ohne etwas wahrzunehmen. Schließlich sagte er: »Weiß nicht … ich meine … glaub schon, aber …«
»Aber was?«
Er sah mich an. »Ist es das, worum es geht? Mick Bishop?«
»Ich will nur wissen, wieso er den Fall übernommen hat, das ist alles.«
»Wieso nicht?«
»Komm schon, Cliff … du weißt genau, was ich meine. Er ist DCI, verdammt. Er ist Mick
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