Schlaflos in Seoul
die er Wort für Wort übersetzte. Er sagte Sätze wie: »Frauen sind wie Schilf. Sie ändern mit jedem Windhauch ihre Meinung.«
Das klang manchmal poetisch, manchmal albern. Für mich war Koreanisch eine Geheimsprache, in der sich Joe mit seinen Freunden
unterhielt, wenn ich nichts verstehen sollte. Ich wollte dem Geheimnis auf den Grund gehen und allen beweisen, dass es keine
Sprache gab, die man mit einiger Anstrengung nicht lernen konnte.
In Berlin ging ich einige Zeit einmal die Woche abends zum Unterricht. Es blieb nicht viel davon hängen, weil ich nie Zeit
hatte, Vokabeln zu lernen. Ich lernte einfache grammatikalische Strukturen, die ich aber nicht richtig anwenden konnte. Als
ich in Seoul ankam, konnte ich Sätze sagen wie: »Der Vater liest die Zeitung« oder »Das Wetter ist schön«. Zumindest den Satz
über das Wetter konnte ich gelegentlich anwenden. Doch sobald ich eine Konversation über das Wetter anfing, konnte ich mir
sicher sein, dass ich die Antwort meines Gesprächspartners nicht verstehen würde.
Meine Standardantwort war, wenn ich angesprochen wurde: »Das ist ein bisschen merkwürdig.« Merkwürdig fand ich, dass in Seoul
nie Nieselregen, sondern immer Platzregen fällt. Merkwürdig fand ich, dass Koreaner – besonders junge Paare – ihre Zuneigung
durch Auftritte im Partnerlook zeigen. Merkwürdig fand ich, dass Koreaner nur »koreanisierte« Versionen |32| von ausländischem Essen herunterzubringen scheinen. Meinen Standardsatz wendete ich auch an, als mir Joes ältere Schwester
ihren Ehemann vorstellte und mir erklärte, dass seine Lieblingsmusik »Gothic Metall« sei. »Das ist ein bisschen merkwürdig«,
erklärte ich und Joes Schwager lächelte säuerlich.
In Seoul schrieb ich mich an der Ewha-Frauenuniversität ein, deren Sprachzentrum unter Ausländern einen guten Ruf hat. An
meinem ersten Tag musste ich einen Einstufungstest absolvieren, bei dem meine Vorkenntnisse abgefragt wurden. In der schriftlichen
Prüfung kam ich mit einer Kombination aus Halbwissen und Raten ziemlich gut zurecht. In der mündlichen Prüfung war ich weniger
erfolgreich. Die Lehrerin fragte mich auf Koreanisch: »Wie lange lernen Sie schon Koreanisch?« Ich verstand die Frage und
wollte auch zu einer Antwort ansetzen, aber plötzlich fielen mir die Zahlen nicht mehr ein. Im Koreanischen gibt es zwei Zahlensätze
– einen rein koreanischen Zahlensatz und einen sino-koreanischen Zahlensatz, der von den chinesischen Zahlwörtern abgeleitet
ist. Ich konnte mir nie merken, wann man welche Zahlen benutzt. Die Lehrerin ließ mir Zeit, meine Antwort zu formulieren.
Als nach einigen Minuten aber immer noch nichts aus meinem Mund herauskam, wiederholte sie ihre Frage in makellosem Deutsch.
Beschämt antwortete ich ihr auf Deutsch und tauschte ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihr aus, während sie ein Formular ausfüllte.
»Sie gehen wohl besser in die Anfängerklasse«, sagte sie.
»Aber ich kann doch schon lesen!«, protestierte ich.
»Ja, aber Sie verstehen doch gar nicht, was Sie lesen. Der Anfängerkurs ist auch nicht einfach. Was Sie in Berlin gelernt
haben, nehmen wir hier in den ersten vier Wochen durch, danach lernen Sie etwas Neues«, versprach sie mir.
Im Kurs traf ich auf eine Amerikanerin, eine Argentinierin, acht Japanerinnen, die oft im Chor aufkreischten, und einen 1 9-jährigen Taiwanesen, der als einziges männliches Wesen in |33| der Klasse so genervt war, dass er sich in den Pausen schlafend stellte, um nicht mit uns reden zu müssen.
Bis vor Kurzem war Männern auf dem Ewha-Campus der Zutritt verboten. Früher drängelten sich gegen Abend Scharen von jungen
Männern auf dem Platz vor dem Haupteingang und warteten, bis ihre Freundinnen aus den Vorlesungen kamen. Heute dürfen Männer
den Campus betreten, aber bis auf männliche Professoren, ab und zu auftretende Handwerker und Ausländer, die im Sprachzentrum
studieren, bleiben Männer seltene Besucher. Koreanische Männer fühlen sich immer noch seltsam deplatziert und unwillkommen
auf diesem weiblichen Terrain.
Dass die Priorität des Sprachunterrichts an der Ewha auf Kommunikationstraining lag, wurde uns schnell klar. Jeden Tag heftete
unser Lehrer überdimensionale Comics an die Tafel. In den Sprechblasen standen Schlüsselwörter auf Koreanisch. Anhand dieser
Begriffe mussten wir den Dialog der Comicfiguren selbst formulieren. Wir übten die Dialoge so lange, bis wir sie fast
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