Schlaflos in Seoul
die absichtlich oder unabsichtlich ständig gegen koreanische Moderegeln verstoßen.
Das kollektive Tragen knapper Outfits ähnelt optisch der Jugendrevolte der späten 1960er Jahre. So eine Revolte kündigt sich
nicht nur modisch an. In allen Büchern, die ich über Korea gelesen hatte, wurde unmissverständlich darauf hingewiesen, dass
Küssen und Händchenhalten in der Öffentlichkeit verpönt sind. Manche Autoren warnten vor missbilligenden Blicken, schimpfenden
Großmüttern und unschönen Witzen.
Schon an meinem ersten Tag in dem Univiertel Sinchon fiel mir auf, dass öffentliche Zuneigungsbekundungen im heutigen Korea
nicht mehr gesellschaftlich sanktioniert werden. Im Gegenteil – in Vierteln, die hauptsächlich von jungen Leuten frequentiert
werden, wird ein Pärchenkult zelebriert, der den meisten Ausländern übertrieben scheint. Junge koreanische Paare treten gerne
im Partnerlook auf – dieselben Jeans, dieselben T-Shirts , dieselben Jacken. Sogenannte couple shirts werden sogar extra zu diesem Zweck hergestellt. Es handelt sich dabei um identische T-Shirts , die oft mit unmissverständlichen Aussagen wie »This is my boyfriend« und »This is my girlfriend« bedruckt sind. Paare, die
weder verlobt noch verheiratet sind, |29| tragen in der Regel klobige couple rings. Es gibt Läden, die sich auf Produkte für Paare spezialisiert haben und alles anbieten
von Pärchen-Kaffeetassen bis hin zu Pärchen-Brillen.
So lächerlich diese Selbstinszenierung erscheinen mag, sie beinhaltet doch einen gewissen Mut, sich gegen das konservative
Gesellschaftsbild der älteren Generation durchzusetzen. Korea ist nach wie vor ein Land, in dem eine bigotte Prüderie nach
US-amerikanischem Vorbild zum Alltag gehört, ein Land, in dem Homosexualität offiziell nicht existiert und als »westliche
Dekadenz« bezeichnet wird, ein Land, in dem Sex vor der Ehe heimlich in schmuddeligen love motels stattfindet – und ein Land,
in dem die Chefs der großen Konzerne Bordellbesuche als Spesen von der Steuer absetzen.
Die händchenhaltenden Pärchen im Partnerlook symbolisieren den Anbruch einer neuen Zeit. Auf den Straßen von Seoul wird geküsst
und mit jedem Kuss erobern sich junge Koreaner ein kleines Stückchen mehr Freiheit.
|30| »Das ist ein bisschen merkwürdig« – Von den Tücken der koreanischen Sprache
»Dsch.« Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Sch.« Eigentlich riet ich nur. Wieder schüttelte sie den Kopf. Wenn es weder Dsch
noch Sch war, blieb nur noch eine Möglichkeit: »Tsch!«
»Richtig!«, jubelte die Lehrerin und klatschte in die Hände. »Gut gemacht!« Ich lächelte müde. Für mich klang alles gleich.
Wer Koreanisch lernen möchte, muss sich zuerst mit dem Alphabet Hangul beschäftigen. Die vierundzwanzig graphischen Zeichen
wurden im Jahr 1443 von König Sejong dem Großen erfunden. Davor benutzten die Koreaner chinesische Schriftzeichen. Da nur
eine gebildete Oberschicht die chinesische Schrift lernte, war die Analphabetenrate groß. In einer intellektuellen Meisterleistung
– auf die die Koreaner heute noch so stolz sind, dass jedes Jahr am 9. Oktober der Hangul-Tag gefeiert wird – schuf König Sejong ein phonetisches Alphabet, dessen Zeichen die Stellung von Mund
und Zunge bei der Aussprache der koreanischen Worte nachahmen. Unter den weltweit rund hundert existierenden Alphabeten ist
Hangul die einzige Schrift, die von einem Mann allein erfunden wurde. Als König Sejong die koreanische Schrift einführte,
behauptete er, ein begabter Schüler könne Hangul an einem Nachmittag und jeder Idiot innerhalb von zwei Wochen lernen.
Ich würde mich nicht als Idioten bezeichnen, aber ich benötigte doch deutlich mehr als einen Nachmittag, um Koreanisch lesen
zu lernen. Ich fühlte mich in die erste Klasse zurückversetzt. Mühsam buchstabierte ich mich durch die kurzen Texte, |31| die die Lehrerin uns gab. Anders als in der ersten Klasse gab es aber keinen Aha-Effekt, kein Wiedererkennen von Wörtern,
die ich gesprochen schon so oft gehört hatte. Als ich Koreanisch lesen lernte, gab mir jeder Satz ein neues Rätsel auf. Nach
wenigen Wochen konnte ich alles lesen und verstand doch nichts.
In Berlin hatte ich aus Spaß mit dem Koreanischlernen angefangen. Ich wollte Joe beeindrucken und dachte, wenn ich seine Sprache
verstand, würde ich auch ihn verstehen. Mit Joe sprach ich immer englisch, aber manchmal benutzte er koreanische Sprichwörter,
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