Schlaflos in Seoul
war. Es war November und schon ziemlich kalt.
Die Männer trugen dunkle Anzüge, die Frauen dunkle Kostüme, die sie vermutlich auch zur Arbeit ins Büro anzogen, und darunter
dünne Wollpullover. Joe stellte mich seiner Familie vor. Seine Mutter und seine älteren Schwestern hatten den Hanbok angelegt,
die farbenfrohe koreanische Tracht.
|59| Joe nahm mich mit in das Brautzimmer, in dem seine Schwester in einem pompösen Hochzeitskleid saß und für Fotos posierte.
Die nach und nach ankommenden Gäste schauten bei der Braut vorbei und ließen sich mit ihr fotografieren. Wie oft Joes Schwester
an diesem Tag in die Kamera lächeln musste, weiß ich nicht. Ich bewunderte ihre Engelsgeduld und ihre Contenance und überreichte
ihr mein Geschenk, das dann in irgendeiner Ecke abgestellt wurde, weil niemand so recht wusste, was man damit anfangen sollte.
Kurz darauf wurde ich wieder aus dem Zimmer herausgeschoben, weil sich bereits neue Gäste in das Brautzimmer hineindrängelten.
Joes Aufgabe war es, die Geldgeschenke zu verwalten und Gäste zu begrüßen. Er rannte hektisch hin und her. Als einzige Ausländerin
war ich mehr oder weniger mir selbst überlassen. Nach einem Monat Koreanischunterricht erfasste ich nur einen Bruchteil dessen,
was um mich herum gesprochen wurde. Die Verständigung war aber nicht das eigentliche Problem, denn es wollte sowieso niemand
mit mir reden. Ich bemerkte nur, wie ich angestarrt wurde und wie über mich getuschelt wurde. Der Raum, in dem die Hochzeit
von Joes Schwester stattfinden sollte, war noch von einem anderen Paar und der dazugehörigen Hochzeitsgesellschaft besetzt.
Ich beschloss, mich dem Tratsch zu entziehen und zog mich auf die Damentoilette zurück. Irgendwann rief Joe mich auf meinem
Handy an und sagte, zwei seiner Freunde seien eingetroffen und wollten mich sehen. Ich hatte die beiden einmal getroffen,
konnte sie aber nicht leiden, weil sie permanent gehässige Bemerkungen über mich als Vegetarierin und rassistische Witze über
chinesische Frauen gemacht hatten. Die Aussicht auf ein Wiedersehen begeisterte mich nicht. Widerwillig machte ich mich auf
den Weg.
Joe sagte, ich sollte während der Zeremonie neben seinen Freunden sitzen. Die beiden begrüßten mich nicht unbedingt herzlich.
Die Abneigung beruhte also auf Gegenseitigkeit und bis auf Joe war das vermutlich auch jedem aufgefallen. Wir nahmen |60| unsere Plätze ein. Joes Freunde tuschelten auf Koreanisch und ließen mich links liegen. Die Zeremonie begann mit dem Hochzeitsmarsch
– zumindest eine Sache, die deutsche und koreanische Hochzeiten gemeinsam haben. Zuerst betrat der Bräutigam den Raum. Dann
wurde Joes Schwester von ihrem Vater hereingeführt. Da es keine kirchliche Trauung war, gab es keinen Altar, nur ein Rednerpodest,
an dem ein Mann in einem eleganten dunklen Anzug wartete, den ich für einen Standesbeamten hielt. Später erfuhr ich, dass
die Zeremonie von einem ehemaligen Lehrer, einem Vorgesetzten oder einem väterlichen Freund des Brautpaares durchgeführt wird.
Eloquenz und ein würdevolles Aussehen genügen, um sich für die Rolle des Zeremonienmeisters zu qualifizieren. Da jeder erwachsene
Koreaner die Zeremonie in einer Hochzeitshalle durchführen kann, ist sie rechtlich nicht bindend, sondern lediglich eine Show,
die für Freunde und Verwandte aufgeführt wird.
Danach muss das Brautpaar die Eheschließung auf dem Standesamt in das Familienbuch eintragen und damit legalisieren lassen.
Heutzutage lassen sich junge koreanische Paare mit diesem Verwaltungsakt Zeit. Da es aufgrund des gesellschaftlichen Drucks
nahezu unmöglich ist, unverheiratet zusammenzuleben, probieren viele junge koreanische Paare nach der Hochzeit das Zusammenleben
in Ruhe unverbindlich aus. Der pragmatische Gedanke, dass sich dadurch eventuelle Scheidungskosten einsparen lassen, klingt
vielleicht zynisch, ist aber nur zu verständlich in einem Land, in dem die Scheidungsrate kontinuierlich ansteigt.
Bei der Hochzeit von Joes Schwester bekam ich von der eigentlichen Zeremonie nichts mit – was nicht nur an meinen mangelnden
Sprachkenntnissen lag. Selbst wenn mein Koreanisch makellos gewesen wäre, hätte ich kein Wort verstanden. Joes Freunde neben
mir unterhielten sich lautstark, telefonierten und schrieben SMS. Ich fragte mich, warum sie überhaupt gekommen waren, wenn sie sich so langweilten. Dann fiel mir |61| auf, dass sie bei Weitem nicht die Einzigen
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