Schlaflos in Seoul
Gebäudes zusteuerten, wurde mir erst klar, dass die Hochzeitsfeier bereits beendet
war. Sie fragten mich, ob ich Joe später noch sehen würde, was ich verneinte: »Ich habe keine Zeit. Ich muss lernen. Wir haben
nächste Woche Prüfungen an der Uni.« Das war nicht einmal gelogen. Ich musste mich wirklich auf meine Prüfungen vorbereiten
und ich wollte natürlich nicht zugeben, dass Joe mich vergessen hatte wie einen alten Regenschirm.
Joes Freunde begleiteten mich zur U-Bahn , verabschiedeten sich mit aufgesetzter Höflichkeit: »Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.« Sicher waren sie genauso wenig
wie ich an einem erneuten Zusammentreffen interessiert. Ich fuhr mit der U-Bahn zurück in das Univiertel Sinchon. In der Annahme, dass die Hochzeitsfeier den ganzen Tag dauern würde, hatte ich für den
späten Nachmittag und Abend keine Verabredungen getroffen. Nach Hause gehen konnte ich nicht, weil meine Vermieterin in unserem
Wohnzimmer Kimchi machte und das ganze Haus voll war mit Chinakohl in verschiedenen Verarbeitungszuständen.
Schließlich ging ich zu Starbucks und fing an, für meine Koreanischprüfung zu lernen. In meinem viel zu eleganten schwarzen
Audrey-Hepburn-Kleid saß ich im Café, lernte Vokabeln und ab und zu schweiften meine Gedanken ab zu der Hochzeit im Akkord,
die ich gerade miterlebt hatte.
|64| Was ist ein Vegetarier?
Für Ausländer kann der erste Kontakt mit koreanischem Essen beinahe schmerzhaft sein: Ich verschluckte mich, trank ein Glas
Wasser auf einen Zug aus und wischte mir die Tränen aus den Augen. Meine Zunge brannte und ich schnappte nach Luft. Ich hatte
ein Gericht namens »Suicide Rice« gegessen, das so scharf ist wie der Name vermuten lässt.
In Ländern mit einer großen koreanischen Diaspora – wie Kanada, den USA oder auch Großbritannien – sind koreanische Restaurants
relativ leicht zu finden. In Deutschland sind sie eine Rarität. Folglich hatte ich, bevor ich nach Korea kam, keinerlei Vorstellung
von koreanischer Küche. Ich nahm an, koreanisches Essen würde chinesischem ähneln. Ich dachte, es würde scharfe und weniger
scharfe Gerichte geben, viel Reis, viel Gemüse, wenig Fett. Ich hatte mich getäuscht. Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist koreanisches
Essen so scharf, dass es neu angekommenen Ausländern Tränen in die Augen treibt.
Die meisten gewöhnen sich mit der Zeit an die koreanische Küche – auch wenn die kulinarische Integration manchmal ein Magengeschwür
nach sich zieht. Koreanische Kellner oder Gastgeber, die einem ausländischen Gast eine dampfende Schale mit einer chilischarfen
roten Suppe vorsetzen, stellen die obligatorische Frage: »Ist das nicht zu scharf für Sie?« Eine Verneinung der Frage wird
mit Begeisterung aufgenommen, und der Satz »Er/sie kann scharfe Gerichte essen« ist die höchste Anerkennung, die ein in Korea
lebender Ausländer bekommen kann.
|65| Für Koreaner hat Essen einen großen Stellenwert. Gerade weil die koreanische Küche bisher – im Vergleich zu chinesischer oder
japanischer – wenig internationale Anerkennung bekommen hat, sind Koreaner normalerweise sehr geschmeichelt, wenn ein ausländischer
Gast ihre Gerichte lobt. Dass Essen Geschmacks- und auch Gewöhnungssache ist, sehen viele ältere Koreaner nicht ein und empfinden
einen achtlos dahingeworfenen, oft nicht einmal böse gemeinten Kommentar über die koreanische Küche als persönliche Beleidigung.
Mit der Wertschätzung der eigenen Küche ist oft eine Abneigung gegen ausländisches Essen verbunden. Ältere Koreaner weigern
sich, ausländische Gerichte zu essen und nehmen selbst bei Auslandsreisen einen ausreichenden Vorrat koreanischer Instantnudeln
und das obligatorische Kimchi mit.
Kimchi ist fermentierter Chinakohl, der mit viel Chilipulver gewürzt wird – eine extrem scharfe Version des deutschen Sauerkrauts.
Mehrfach musste ich im Koreanischunterricht in Form von Referaten oder Aufsätzen die Unterschiede zwischen Kimchi und Sauerkraut
herausstellen. Die Zubereitung ist zwar ähnlich, doch der gesellschaftliche Stellenwert von Kimchi und Sauerkraut könnte unterschiedlicher
nicht sein. Während Sauerkraut von den meisten Deutschen nur an besonderen Tagen oder nur in Kombination mit bestimmten Gerichten
gegessen wird, gehört Kimchi für den Großteil der Koreaner zu jedem Essen – zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen.
Sogar chinesische oder italienische Restaurants in
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