Schlaflos in Seoul
waren, die lärmten. Die gesamte Hochzeitsgesellschaft brummelte vor sich hin,
sodass höchstens Joes Familie in der ersten Reihe und die Familie des Bräutigams bei dieser Geräuschkulisse verstehen konnten,
was der Zeremonienmeister und das Brautpaar sagten.
Die eigentliche Zeremonie dauerte nur wenige Minuten. Der offizielle Teil wurde noch ein wenig ausgedehnt. Das Brautpaar verbeugte
sich erst vor den Eltern des Bräutigams und dann vor den Eltern der Braut. Anschließend wurden auf einer großen Leinwand Bilder
des Brautpaars als Kinder und Heranwachsende gezeigt. Eigentlich hätte es ein anrührender Moment sein können, wäre die Emotionalität
des Augenblicks nicht durch die schmalzige Musik vom Band und die Gewissheit, dass exakt die gleiche Prozedur an diesem Tag
bereits für ein gutes Duzend anderer Paare durchgeführt worden war, zerstört worden.
Der offizielle Teil dauerte insgesamt zwanzig Minuten. Danach wurde vierzig Minuten lang fotografiert. Das Brautpaar – das
Brautpaar mit den Eltern – das Brautpaar mit Eltern und Geschwistern – das Brautpaar mit den Freunden des Bräutigams – das
Brautpaar mit den Freunden der Braut … Das Fotografieren schien gar kein Ende mehr zu nehmen. Die Braut wurde auch dabei fotografiert, wie sie den Brautstrauß
warf – eine gestellte Szene, die mehrfach für den Fotografen wiederholt wurde. Die Freundin, die als Nächste heiratet, muss
den Brautstrauß fangen. Die anderen unverheirateten Freundinnen halten Abstand, damit sie nicht aus Versehen zugreifen. Wer
den Brautstrauß fängt, muss innerhalb der nächsten sechs Monate heiraten, andernfalls wird die Frau bis zu ihrem Lebensende
unverheiratet bleiben.
Nach der Fotosession wurden die Hochzeitsgäste in den Speisesaal im zehnten Stock des Hochhauses gescheucht. Die Halle im
Untergeschoss musste schnell für die nächste Gesellschaft frei gemacht werden. Joes Schwester heiratete im |62| November 2006. Nach dem chinesischen Kalender, an dem sich auch die Koreaner orientieren, waren die letzten Monate des Jahres des Hundes
angebrochen. In der chinesischen Astrologie werden dem Hund Eigenschaften wie Loyalität und Familiensinn zugesprochen – was
das Jahr des Hundes zu einer günstigen Zeit für Eheschließungen macht, während das darauffolgende Jahr des Schweins Glück
und Reichtum verspricht und damit als positives Vorzeichen für die Geburt eines Kindes gilt.
Da auch heute noch mehr Koreaner an diese Lehre der zwölf Tierkreiszeichen glauben, als es manche westliche Ausländer für
möglich halten, herrschte Ende 2006 Hochkonjunktur in den koreanischen Hochzeitshallen. Zeremonie folgte auf Zeremonie. Es durfte keine Zeit verschwendet werden,
damit der präzise getaktete Hochzeitsterminplan nicht durcheinanderkam.
Während die Gäste zum Essen geschickt werden, tauscht das Brautpaar die westliche Hochzeitsgarderobe gegen den traditionellen
Hanbok ein und zieht sich mit den engsten Familienangehörigen in ein Extrazimmer zurück. Dort wird eine Zeremonie vollzogen,
von der der Großteil der Hochzeitsgäste ausgeschlossen bleibt.
Ich musste mit Joes Freunden zum Essen gehen. Sie machten erneut abfällige Bemerkungen darüber, dass ich Vegetarierin war,
kümmerten sich danach aber nicht weiter um mich, sondern widmeten sich dem Essen. Ich aß ein bisschen Salat, ein bisschen
Reis und eingelegtes Gemüse – weswegen ich schneller fertig war als die anderen. Eigentlich wäre ich gerne nach Hause gegangen,
aber ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass nach dem Essen der eigentliche Höhepunkt der Feier stattfinden würde.
Also blieb ich einfach sitzen und beobachtete die anderen Gäste beim Essen und das Küchenpersonal, das hektisch leere Teller
abräumte, benutzte Pappbecher wegwarf, neue Getränke und neue Pappbecher brachte. Besondere |63| Mühe gab sich das Personal nicht. An dem Platz, an dem ich saß, klebte noch eingetrockneter Reis, den ein Gast der vorherigen
Hochzeitsgesellschaft fallen gelassen hatte. Vielleicht war gründliches Saubermachen aber auch zu viel verlangt bei dieser
raschen Aufeinanderfolge von Hochzeiten.
Joe bekam ich während des Essens nicht zu Gesicht. Ich vermutete, dass er bei der traditionellen Hochzeitszeremonie präsent
sein musste oder immer noch mit dem Geldzählen beschäftigt war. Als Joes Freunde nach dem Essen aufstanden, schloss ich mich
ihnen an. Während sie auf den Ausgang des
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