Schlaflos in Seoul
war, wusste er auch nicht so recht, was um ihn herum geschah und fühlte sich auf seiner
eigenen Hochzeit wie eine ferngesteuerte Marionette.
»Zwangshochzeiten« wie diese sind im heutigen Korea eigentlich nicht mehr üblich. Wenn konservative koreanische Eltern jedoch
die Chance auf eine Eheschließung wittern, können unorthodoxe Methoden durchaus zum Einsatz kommen. In diesem Fall war die
Braut einunddreißig Jahre alt. Da sie in Berlin mit ihrem deutschen Freund unverheiratet zusammengelebt hatte – was in Korea
immer noch als sehr verrucht gilt, hatte sie sich in den Augen ihrer Eltern bereits so weit »entehrt«, dass sie auf dem koreanischen
Heiratsmarkt ohnehin nicht mehr vermittelbar gewesen wäre. Das Alter der Tochter und ihre Beziehung zu einem Nicht-Koreaner
hatten die Aussichten auf einen koreanischen Ehemann zunichte gemacht und so |54| musste eben ein deutscher Bräutigam genügen. Nach Ansicht der koreanischen Eltern hatte der junge Deutsche ihre Tochter in
eine sozial inakzeptable Situation gebracht, also sollte er sie auch zu einer »ehrbaren« Frau machen.
Als ich die Geschichte zum ersten Mal hörte, war ich entsetzt, aber je mehr ich über Korea und koreanische Familienstrukturen
erfuhr, desto besser verstand ich den Gedankengang dieses Elternpaars aus Busan – so dreist ihr Verhalten auch war. In Korea
gibt es kein gesichertes Rentensystem, deshalb sind erwachsene Kinder für den Unterhalt ihrer Eltern verantwortlich und erwarten
später von ihren eigenen Kindern das Gleiche. Wer sich gegen dieses System der familiären Altersversorgung auflehnt und für
sich selbst diesbezüglich Freiheiten einfordert, muss in einem konservativen Elternhaus mit Konsequenzen rechnen – die in
seltenen Fällen bis zur Zwangsverheiratung gehen.
|55| Hochzeit im Akkord
Ich kam zwanzig Minuten zu früh in die Hochzeitshalle, die sich im Untergeschoss eines Hochhauses im Seouler Geschäftsviertel
Gangnam befand. Dank einer groben Skizze, die mir als Wegbeschreibung diente, hatte ich den Weg schneller gefunden als gedacht.
Die meisten Koreaner heiraten in riesigen blumengeschmückten Hallen, deren einzige Funktion es ist, Hochzeiten mit mehreren
hundert Gästen Raum zu bieten. Trauungen auf dem Standesamt oder in Kirchen sind zwar prinzipiell möglich, aber unüblich.
Südkorea ist eines der wenigen asiatischen Länder, in denen das Christentum Fuß gefasst hat. Die christliche Religion ist
im Straßenbild Seouls sehr präsent: unzählige Kirchen, deren rote Neonkreuze auch nachts bereits von weitem deutlich zu erkennen
sind, Kreuzanhänger und Marienbildchen baumeln bei vielen jungen Koreanern an dünnen Ketten um den Hals oder als Glücksbringer
an Autorückspiegeln, ältere Damen lesen in der U-Bahn die Bibel, aufdringliche Missionare sprechen auf der Straße Passanten an und versuchen, sie mit Methoden, die in Europa höchstens
von militanten Sekten bekannt sind, in ihr Gemeindezentrum zu locken. 26 Prozent aller Koreaner sind Christen, weitere 26 Prozent sind Buddhisten, 1 Prozent bekennt sich zum Konfuzianismus und die restlichen 47 Prozent sind konfessionslos. Aufgrund dieses Mischverhältnisses sind gemischtkonfessionelle Hochzeiten häufig. Da viele nichtchristliche
Koreaner von den aggressiven Straßenmissionaren eher abgeschreckt sind, kommt es selten vor, dass |56| ein gemischtkonfessionelles Paar in einer christlichen Kirche heiratet.
Die erste koreanische Hochzeit, die ich miterlebte, fand einen Monat nach meiner Ankunft in Seoul statt. Joes ältere Schwester,
die wie die ganze Familie katholisch ist, heiratete einen Buddhisten. Ich hatte Joes Schwester noch nicht kennengelernt, hatte
keine offizielle Einladung bekommen und hielt es eigentlich für ziemlich unpassend, bei dieser Hochzeit zu erscheinen. Aus
Deutschland kannte ich nur Hochzeiten im engeren Familien- und Freundeskreis. Wer weder Braut noch Bräutigam kennt, hat dort
nichts zu suchen.
In Korea kommen meist mehrere hundert, oft über tausend Gäste zur Feier. Jeder, der von der Hochzeit erfährt und dem Brautpaar
Glück wünschen möchte, kann kommen und ist auch erwünscht. Früher gingen Obdachlose oft zu Hochzeitsfeiern, weil sie dort
umsonst essen konnten. Im heutigen Korea sind Hochzeiten vor allem ein Geschäft, wie ich später von Mr. Park, meinem Koreanischlehrer, erfuhr.
Eine Hochzeit mit mehreren hundert Gästen kostet umgerechnet zwischen 20 000 und
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