Schlaflos in Seoul
beim Bestellen erklärte, dass ich weder Fleisch, Fisch noch Meeresfrüchte aß, fragten die Kellner oft entgeistert:
»Auch keinen Schinken?« Ruhig antwortete ich: »Auch keinen Schinken«, fragte mich aber, wie jemand ernsthaft der Meinung sein
konnte, Schinken sei kein Fleisch. Irgendwann begriff ich, dass viele koreanische Kellner einfach keine Ahnung hatten, was
ein Vegetarier ist. Im Koreanischen gibt es ein Wort für Vegetarier, aber das Wort ist so lang und kompliziert, dass selbst
mancher Koreaner mit guter Schulbildung die genaue Orthographie des Wortes nicht kennt, weil es im allgemeinen Sprachgebrauch
wenig verwendet wird. Vegetarismus ist ein völlig unbekanntes Konzept. Außer einigen buddhistischen Mönchen, die im heutigen
Korea nicht mehr zahlreich sind, gibt es in Korea nur eine Handvoll Vegetarier.
Wenn ich mein vegetarisches Essen bestellte, sagten viele Kellner vorwurfsvoll: »Aber das schmeckt doch nicht.« Ich antwortete
trotzig: »Mir schon.« »Fleisch oder nicht Fleisch« war für mich in erster Linie eine private Entscheidung, die jeder für sich
selbst treffen sollte. Die meisten Koreaner waren jedoch anderer Meinung. Das begriff ich erst, als es eines Tages im Streit
aus Joe herausplatzte: »Meine Freunde hatten recht! Du bist schwierig und zickig!«
»Wie kommen deine Freunde darauf, dass ich schwierig und zickig bin?«, fragte ich. Es handelte sich um Freunde, die ich ein
einziges Mal zum Abendessen getroffen hatte. Ich erinnerte mich an keinerlei Fehlverhalten meinerseits.
»Weil du Vegetarierin bist.«
Erst als er es ausgesprochen hatte, wurde mir das ganze Ausmaß des Problems klar. Für den Durchschnittskoreaner schließt ein
Abend mit Freunden das Essen von Fleisch, das gemeinsam an einem Tischgrill zubereitet wird, und das Trinken von Unmengen
von Schnaps mit ein. Wer sich dem entzieht |69| und sein sprichwörtlich eigenes Süppchen kocht, gilt als ungesellig, egoistisch und nicht integrierbar. Dass Essverhalten
in erster Linie eine persönliche Entscheidung ist, lassen die meisten Koreaner nicht gelten, denn in Korea gibt es keine persönlichen
Entscheidungen, es gibt nur Gruppenentscheidungen, und wer nicht in der Lage ist, sich der Gruppe anzupassen, gilt automatisch
als unerwünscht und störend.
Meine Mitbewohnerin Sheila aus Vancouver lebte seit drei Jahren in Korea und schrieb an der Sogang-Universität eine Arbeit
über das Verhältnis von Japan und Korea nach dem Zweiten Weltkrieg. Abendessen mit ihren Professoren und ihren koreanischen
Kommilitonen waren für sie oft unumgänglich. Da die Gruppe meistens entschied, in Barbecue-Restaurants gegrilltes Schweinefleisch
zu essen, blieb ihr nichts anderes übrig als mitzugehen. Sie ekelte sich vor dem Schweinefleisch, das im Wesentlichen aus
einer dicken Fettschicht bestand. Als ihre Professoren und ihre Kommilitonen beobachteten, dass sie nur Reis und Gemüse aß,
fragten sie sie pikiert, ob sie Vegetarierin sei. Um der Häme ihrer Kommilitonen zu entgehen, nahm sie von da an mit ihren
Essstäbchen ein Stück Fleisch vom Grill, legte es auf ihren Teller und deckte, wenn die anderen nicht hinsahen, eine Serviette
darüber. Sie aß es nie, aber es hatte den Anschein, als würde sie Fleisch essen – womit sie sich zumindest der Form nach in
die Gruppe integrierte.
Woher die Abneigung gegen Vegetarier kommt, ist nicht genau zu rekonstruieren. Eine Äußerung der französischen Schauspielerin
und Tierschützerin Brigitte Bardot aus dem Jahr 2001 sorgte in Korea für derartigen Aufruhr, dass Brigitte Bardot heute noch
die in Korea meistgehasste Person ist – und weil Brigitte Bardot Vegetarierin ist, hat der Skandal um sie zu dem schlechten
Image der Vegetarier in Korea beigetragen. Brigitte Bardot hatte in einem Interview den Verzehr von Hundefleisch als »barbarische
Unsitte« bezeichnet.
Etwa zehn Prozent aller Koreaner essen heutzutage Hundefleisch |70| , das als potenzsteigernde Delikatesse gilt. Meist wird das Fleisch in einem Eintopfgericht namens Poshingtang serviert. Nach
Medienberichten werden Hunde vor dem Schlachten gequält, weil die Adrenalinausschüttung die Qualität des Fleisches angeblich
verbessern soll. Nachdem Brigitte Bardot diese Praxis recht undiplomatisch kritisiert hatte, wurde sie mit Drohbriefen und E-Mails aus Südkorea überschüttet.
Da Hundefleisch in Korea von einer Minderheit gegessen und von weiten Teilen der Bevölkerung
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