Schlaflos in Seoul
kann. Plötzlich sah ich ein Schild mit der Aufschrift »Livingtel«. Das Wort sagte
mir nichts. Es war eine dieser Wortschöpfungen, die in Korea als Konglish bezeichnet werden – eine Mischung aus Koreanisch
und Englisch. Neben dem Wort »Livingtel« stand: »Moderne, komfortable Wohneinheiten«. Ich hatte nichts zu verlieren und ging
hinein. Im Erdgeschoss war ein Restaurant, das sich auf Meeresfrüchte und Fischgerichte spezialisiert hatte, weswegen es in
dem ganzen Haus nach Fisch roch. Im ersten Stock lag eine Bar, die damit warb, dass jeden Abend Lifemusik gespielt wurde.
Die Livingtel-Wohneinheiten befanden sich im zweiten, dritten und vierten Stock. Ich ging in das Büro im zweiten Stock. Der
Hausverwalter war sehr nett und kam offenbar von der Südspitze der koreanischen Halbinsel. Sein starker Dialekt und meine
unzureichenden Koreanischkenntnisse erschwerten die Kommunikation, aber er verstand, was ich wollte und zeigte mir ein Zimmer.
Das Zimmer war winzig – etwa sechs Quadratmeter groß: ein Bett, über dessen Fußende bereits der Schreibtisch anfing, ein schmaler
Kleiderschrank, ein Fernseher, ein Regalbrett und ein paar Kleiderhaken. Eine Glastür führte zu einer Nasszelle mit Dusche
und Waschbecken. Die Toiletten befanden sich auf dem Gang. Es gab eine Küche und eine Waschmaschine zur gemeinsamen Nutzung.
Ich war mir bewusst, dass das Gebäude in der lautesten Ecke des Kneipenviertels von Sinchon lag und das Zimmer winzig war.
In einem durchschnittlichen deutschen Einfamilienhaus ist selbst das Badezimmer größer als dieses Livingtel. Die Nachteile
waren offensichtlich, aber der Hausverwalter war freundlich und hilfsbereit, das Haus sauber, die Möbel hübsch und neu – und
ich hatte weniger als eine Woche, um eine neue Unterkunft zu finden.
Ich hatte einmal einen Artikel über Kapsel-Hotels in Japan gelesen, in denen man Schlafeinheiten mieten kann, die im Wesentlichen
aus einem Bett und einem Fernseher bestehen. |76| Als ich vor Jahren durch Japan reiste, wollte ich in einem Kapsel-Hotel übernachten, aber die meisten vermieteten nur an Männer
und ich hatte immer bereut, diese existenzielle Erfahrung der räumlichen Enge versäumt zu haben. Das Livingtel in Seoul war
meine Chance, das nachzuholen. Ich unterschrieb einen Mietvertrag und zog kurz darauf ein.
Die Enge, die ich als Erlebnis gesucht hatte, wurde bald zur Belastung für mich. In dem winzigen Zimmer fühlte ich mich eingesperrt.
Ich schlief schlecht. Der Lärm von der Straße war weniger schlimm als der Lärm aus dem Hausinneren. Die Wände der Wohneinheiten
waren dünn. Fast jeden Tag hörte ich, wie sich mein Nachbar nach einer feuchtfröhlich durchfeierten Nacht im Morgengrauen
in seiner Nasszelle erbrach.
Mein Zimmer lag neben dem Waschraum. Die Hausordnung verbot zwar die Benutzung der Waschmaschine nach zweiundzwanzig Uhr,
aber einer der Hausbewohner fand sich immer, dem nachts um drei Uhr noch einfiel, dass seine Wäsche dringend gewaschen werden
musste. In solchen Nächten lag ich hellwach im Bett und hoffte, dass der Schleudergang der Waschmaschine bald beendet sein
würde. Tagsüber war ich müde, hatte dunkle Augenringe und war ständig reizbar und schlecht gelaunt.
So sehr mich die Enge des Zimmers auch bedrückte, sie machte mich nach einer Weile träge und bequem. In den ersten Tagen nach
meinem Einzug drängte es mich hinaus auf die Straße – hinaus in die Freiheit. Ich verbrachte die meiste Zeit in Cafés oder
an der Ewha. Nach einigen Tagen hatte ich aber gar keine Lust mehr, das Zimmer zu verlassen. Außer zum Koreanischunterricht
ging ich selten aus. Ich blieb in meinem winzigen Zimmer, lag im Bett und sah fern. Nach nur einem Monat zog ich aus.
Die nächste Wohnung lag in der Nähe des Dongdaemun-Markts – dem Zentrum der koreanischen Modeszene. Das Viertel im Nordosten
Seouls gehört eigentlich nicht zu den |77| typischen Wohngegenden der Stadt, aber der Wohnraum in der 1 3-Millionen -Metropole wird knapp und so wurden in ehemaligen Geschäftsvierteln Bürogebäude in Wohnhäuser umgewandelt. Die Wohnung war
geschmackvoll eingerichtet. Sie war voll ausgestattet mit Badezimmer, Küchenzeile und Waschmaschine. Das Haus lag direkt an
einer U-Bahn -Haltestelle – was für mich wichtig war, denn wegen des Kamikaze-Fahrstils der koreanischen Busfahrer vermied ich Busse, wo
es nur ging. Die Wohnung war perfekt – bis auf eine Kleinigkeit: meine Miete
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