Schlaflos in Seoul
selten mit guten Absichten. Die kleine Halbinsel war ein Spielball
zwischen den mächtigeren Nachbarn China und Japan. Die Geschichte kriegerischer Auseinandersetzungen, bei denen Korea traditionell
immer unterlegen war, belastet noch heute das Verhältnis zu beiden Nachbarländern.
Es gibt kaum einen Koreaner, der über China etwas Positives zu sagen hat. Chinesen seien schmutzig, unkultiviert und äßen
Tiere, die in den meisten anderen Ländern der Welt nicht zum Verzehr vorgesehen seien – so lautet der allgemeine Tenor. Ironischerweise
würden einige in Korea lebende Ausländer das gleiche harsche Urteil Wort für Wort über Korea abgeben. Derart drastische Kritik
an China wird meist von Koreanern hervorgebracht, die noch nie einen Fuß in das verhasste Nachbarland gesetzt haben. Vermutlich
liegt es an den fehlenden persönlichen Erfahrungen mit dem Reich der Mitte und seinen Bewohnern, dass viele Koreaner die durchaus
vorhandenen Parallelen im chinesischen und im koreanischen Lebensstil nicht erkennen. Das Verhältnis von Chinesen und Koreanern
kann man mit dem einer zerstrittenen Familie vergleichen. Für Koreaner sind Chinesen wie heruntergekommene Cousins, für die
sie sich schämen, weil sie befürchten, dass sie sich eigentlich doch sehr ähnlich sind.
Das Verhältnis zu Japan ist von einer Hassliebe geprägt. Die meisten Koreaner bewundern Japan heimlich und versuchen japanische
Mode, japanische Musik und den japanischen Lebensstil zu imitieren. Das Schlüsselwort dabei ist jedoch »heimlich |88| «, denn eine Vorliebe für japanische Kultur äußert man in Korea besser nicht öffentlich. Nach der japanischen Invasion im
Jahr 1910 war Korea fünfunddreißig Jahre lang japanische Kolonie. Die Besatzer zwangen die koreanische Bevölkerung, japanische
Namen anzunehmen, japanisch zu sprechen und zu schreiben und sich vor dem Bild des japanischen Kaisers zu verbeugen. Koreanische
Städte bekamen japanische Namen. Die koreanische Schrift Hangul wurde aus dem Schulunterricht verbannt. Koreanische Schüler
wurden durch japanische Schulbücher indoktriniert, so wie ihre Eltern durch permanente Propaganda zu Japanern umerzogen werden
sollten. Korea verlor seine nationale Identität und wurde zu einer japanischen Provinz.
Die Kriegsverbrechen, die von japanischen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs verübt wurden – Folter, medizinische Versuche
an Gefangenen, Zwangsarbeit und Zwangsprostitution –, aber auch die koreanische Kollaboration mit den japanischen Besatzern sind eine schlecht vernarbte Wunde. Korea ist ein
Land, das im Laufe der Jahrhunderte viele Kriege erlebt hat. Dennoch nehmen die japanische Besatzung und der Zweite Weltkrieg
eine Sonderstellung ein. Das mag an der relativen zeitlichen Nähe liegen, aber auch an der Spirale von Provokation und Gegenprovokation,
die noch heute das koreanisch-japanische Verhältnis bestimmt. Regelmäßig gibt es territoriale Streitigkeiten zwischen Südkorea
und Japan um die Dokdo-Felseninseln im japanischen Meer, die offiziell zu Südkorea gehören. Noch heute stellen japanische
Schulbücher die koreanisch-japanische Geschichte nicht wahrheitsgemäß dar. Seit Jahrzehnten fordert Korea eine offizielle
Entschuldigung für Japans Kriegsverbrechen. Bisher hat es noch keine Einigung zwischen den beiden Staaten gegeben, die für
alle Beteiligten akzeptabel wäre.
Die Darstellung der gemeinsamen Geschichte ist allerdings auch in koreanischen Schulbüchern nicht neutral. In Korea |89| werden Schulkinder mit antijapanischer Propaganda großgezogen. Als ich zwei kleine Mädchen in Englisch unterrichtete und mit
ihnen Ländernamen, Nationalitäten und Flaggen durchnahm, zeigte ich ihnen die japanische Flagge. Sie sollten eigentlich nur
den Ländernamen auf Englisch nennen. Wie auf Kommando sagte eines der Mädchen: »Japan. Aber Japaner sind alle schlechte, grausame
Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen.« Meine andere Nachhilfeschülerin äußerte sich ähnlich negativ. Ich fragte
sie, woher sie das wüssten. Sie zeigten mir ihr Schulbuch, das voll war mit antijapanischer Hetze.
Die Schwierigkeiten zwischen Japan und Korea beschränken sich jedoch nicht nur auf historische Konflikte. Auch wirtschaftliche
Rivalität und ein Wettstreit um internationale Aufmerksamkeit belasten die Beziehungen. Korea fristet ein Mauerblümchendasein
zwischen China und Japan. Touristen, die sich nach Korea
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