Schlaflos in Seoul
der Wohnung fing ich lebend ein und setzte sie im Freien aus. So abstoßend ich die Kakerlaken in
meiner Wohnung auch fand, war ich trotzdem der Meinung, dass auch Kakerlaken ein Recht auf Leben haben. Joe war empört, als
ich ihm sagte, dass ich nichts gegen die Kakerlaken unternehmen wollte. »Du wirst krank, wenn du nichts unternimmst! Kakerlaken
haben mit größter Wahrscheinlichkeit die SAR S-Epidemie ausgelöst.« SARS – die Atemwegserkrankung, die wenige Jahre zuvor ganz Asien in Schrecken versetzt hatte – genügte als Drohung.
»Du kannst ein paar Tage bei mir wohnen, bis ein Kammerjäger das Problem in den Griff bekommen hat.« Joe lebte wie in Korea
üblich bei seinen Eltern. Die sprunghaft ansteigende Kakerlakenpopulation in meiner Wohnung war mir zwar alles andere als
angenehm, aber die Aussicht, mit Joes Mutter zusammenwohnen zu müssen, begeisterte mich auch nicht gerade. Ich überzeugte
Joe davon, dass es besser war, wenn ich in meiner Wohnung blieb, versprach aber, am nächsten Morgen meinen Vermieter anzurufen
und mit ihm über das Problem zu sprechen.
|80| Als ich Mr. Lee anrief und ihm von der Kakerlakenplage erzählte, war er nicht im Geringsten überrascht. »In der Nachbarwohnung hatten
wir große Probleme mit Kakerlaken. Es kann sein, dass die jetzt in Ihre Wohnung weitergezogen sind«, erklärte er mir auf Englisch.
Hilfsbereit und kulant wie er war, bot er sofort an, meine Wohnung mit einer giftigen Substanz auszuräuchern. »Aber das ist
doch sicher auch für Menschen gesundheitsgefährdend, oder nicht?« Ich war misstrauisch, denn ich wusste, wie unbedarft Koreaner
mit Insektengiften, Pestiziden und anderen toxischen Substanzen umgehen. »Wenn Sie einen Tag von frühmorgens bis spätabends
aus dem Haus sind, kann ich das Gift versprühen und danach die Fenster öffnen. Dann sollte alles in Ordnung sein, wenn Sie
abends nach Hause kommen«, erklärte er. »Aber ich kann doch nicht in einer Wohnung schlafen, in der Gift versprüht wurde.«
Ich war immer noch nicht überzeugt. Mr. Lee versicherte mir, das sei alles kein Problem. Zögernd stimmte ich zu und hoffte, dass er wusste, was er tat.
An dem Tag, an dem Mr. Lee das Gift versprühen wollte, verließ ich frühmorgens das Haus. Ich ging in den Unterricht, lernte mehrere Stunden in der
Bibliothek, ging in ein traditionelles Badehaus und verbrachte so viel Zeit in Warm- und Kaltwasserbecken, Dampfbädern und
in der Sauna, bis meine Haut schrumpelig war. Zum Abendessen traf ich mich mit Laurent und Arnaud, zwei Franzosen, die ich
aus dem Koreanischunterricht kannte. Ich versuchte das Abendessen so lange wie möglich auszudehnen. Laurent und Arnaud fingen
an, Witze über mich zu machen und fragten, was ich wohl angestellt hatte, dass ich mich nicht nach Hause traute. »Mein Vermieter
hat in meiner Wohnung Insektengift versprüht«, erklärte ich. Sie lächelten wissend und gaben Kakerlakenanekdoten zum Besten,
von denen eine ekliger war als die andere.
Gegen dreiundzwanzig Uhr wagte ich mich nach Hause. Als ich meine Wohnungstür aufschloss, stieg mir ein süßlicher |81| Geruch entgegen und auf einmal wusste ich, warum man von »süßem Gift« spricht. Ich öffnete das Fenster, wechselte meine Bettwäsche
und versuchte, sonst nichts anzufassen. Ich lag auf meinem frisch bezogenen Bett, atmete das süße Gift ein und versuchte einzuschlafen.
|82| Hanbok und Hightech
Ihr pinkfarbener, weit ausladender Rock und die bunte Kurzjacke verbargen ihren Körper und ließen sie wie ein Wesen aus einer
anderen Zeit wirken. Eine ältere Dame im Hanbok, der traditionellen koreanischen Tracht, ist ein seltener Anblick in Seouls U-Bahn . Zwischen all den Teenagern, die auf ihren Mobiltelefonen Computerspiele spielten und fernsahen, zwischen all den Anzugträgern,
die per Handy schnell vor Börsenschluss noch Geschäfte abwickelten, zwischen all den jungen koreanischen Fashionistas, die
stolz ihre neuesten Errungenschaften von Louis Vuitton und Gucci vorführten, wirkte die ältere Dame im Hanbok beinahe surreal.
Sie kam vermutlich gerade von einer Hochzeit zurück. Hochzeiten enger Familienangehöriger, das chinesische Neujahrsfest und
das Erntedankfest gehören zu den wenigen Gelegenheiten, zu denen heute der Hanbok noch getragen wird.
Die Szene in der U-Bahn hätte aus einem Korea-Werbespot stammen können. Seit einiger Zeit läuft auf CNN und anderen Fernsehsendern, die auf ein
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