Schlaflos in Seoul
internationales
Publikum abzielen, eine groß angelegte Kampagne, die das Image Koreas im Ausland verbessern soll. Slogans wie »Dynamic Korea«
und »Korea Sparkling« sollen ein energiegeladenes, positives Bild von Korea vermitteln. Die Filmsequenzen der Werbespots spielen
mit den Gegensätzen von Tradition und Moderne: Hanbok und Hightech, Popkultur und Folklore, Wolkenkratzer und alte Königspaläste.
Die Widersprüche, die Parallelgesellschaften, die manchmal grotesken Kontraste machen Koreas Charme aus. |83| Ein Land im Umbruch ist immer faszinierend zu beobachten. Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne bringt aber auch
eine Identitätskrise und einen Generationenkonflikt mit sich – was Korea zu einem Land macht, in dem weder Koreaner noch Ausländer
ein einfaches Leben haben.
In den späten 1980er und in den frühen 1990er Jahren wurde Korea mit seinem rasanten Wirtschaftswachstum zu einem der erfolgreichsten
Tigerstaaten. Firmen wie Samsung, LG oder Hyundai kämpften sich an die Spitze des Elektronik- und Hightech-Sektors. Technische
Spielereien jeder Art, die das im Vergleich technikskeptische Deutschland meist erst Jahre später oder manchmal gar nicht
erreichen, werden in Korea begeistert aufgenommen. Putzroboter, die das Parkett auf Hochglanz bringen, Kühlschränke, die den
Bestand an Nahrungsmittelvorräten anzeigen und bei Bedarf Einkaufslisten erstellen, SmartPhones, die neben der normalen Telefonfunktion
alle Funktionen eines kleinen Computers übernehmen, sind in Seoul keine Utopie, sondern Realität. Auch wenn nicht jeder Koreaner
sich diese Hightech-Produkte leisten kann oder will, gehören sie doch zumindest für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe
bereits zum Alltag. Verzaubert und gleichzeitig verstört betrachten ältere Koreaner diese technischen Spielereien, die ihnen
so fremd bleiben als seien es rätselhafte Geräte, die Außerirdische vergessen haben, bevor sie ihr Raumschiff bestiegen und
auf ihren Lichtjahre entfernten Planeten zurückkehrten.
In Korea scheiden sich an der Technikkompetenz Jung und Alt, Mit-der-Zeit-Gegangene und Ewiggestrige. Der moderne Koreaner
ist immer unterwegs, immer erreichbar, immer mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigt. Der Lebensrhythmus ist schnell,
Verschnaufpausen gibt es nicht. Wer bei diesem Tempo nicht mithalten kann, wird rasch gesellschaftlich aussortiert.
In seinem Roman ›Der ferne Garten‹ beschreibt der koreanische |84| Schriftsteller Hwang Sok-yong wie ein politischer Häftling nach siebzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und sich
in der modernen koreanischen Gesellschaft nicht mehr zurechtfindet. Sein erster Tag in Freiheit hält viele Überraschungen
für ihn bereit. Er wundert sich über die kleinen Gegenstände, die man sich ans Ohr hält und die wie tragbare Radios aussehen
– das Handy ist ein unbekanntes Gerät für ihn. Überrascht stellt er fest, dass Wasserhähne nicht mehr aufgedreht werden müssen,
sondern automatisch mit Bewegungssensor funktionieren. Nach siebzehn Jahren findet er sich in einer neuen Welt wieder.
Im Jahr 2005 verzeichnete Südkorea einen makaberen Rekord. Die Selbstmordrate war zum ersten Mal höher als in Japan. Das lag
vor allem daran, dass immer mehr ältere Koreaner Selbstmord begingen. Über die Gründe wurde viel spekuliert. Die meisten Zeitungen
kamen zu dem Schluss, dass sich viele ältere Menschen in Korea nicht mehr zurechtfinden, weil es nichts mehr mit dem Land
zu tun hat, in dem sie aufgewachsen sind.
Der Generationenkonflikt fordert seine Opfer. Allerdings wäre es übertrieben, die ältere Generation in eine Opferrolle zu
drängen. Die Angst vor einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung, die der dynamischen Wirtschaftsentwicklung folgt,
die Angst, dass ihnen alles entgleitet, lässt viele ältere Koreaner störrisch an Althergebrachtem und Traditionellem festhalten.
Zu den unumstößlichen Regeln gehören die Maximen des Konfuzianismus. Sie fordern die Autorität des Alters, die männliche Dominanz
und den Respekt vor Ranghöheren. Das streng hierarchisch gegliederte Gesellschaftssystem bestimmt den Rang jedes Individuums.
Es durchdringt jede gesellschaftliche Einheit – von Schulen, Universitäten und Firmen bis zu den Familienstrukturen.
In Korea ist es nicht unüblich, dass Eltern ihre Kinder unbarmherzig zum Lernen antreiben, sie in verhasste Berufe und in
lieblose Ehen zwingen –
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