Schlaflos in Seoul
einfach weil sie traditionell das |85| Recht dazu haben. Viele junge Koreaner, die im Ausland studiert, verschiedene Länder bereist oder zumindest durch Film und
Fernsehen Erfahrungen mit anderen Kulturen gesammelt haben, wissen, wie frei und ungezwungen ihre Altersgenossen in anderen
Ländern leben.
Der Generationenkonflikt ist mit der Situation in Europa und in den USA in den 1950er Jahren vergleichbar. Nicht umsonst taucht
James Dean – die Ikone des jugendlichen Ungehorsams – ab und an in koreanischen Werbespots und in der Zeitungswerbung auf.
Das Image, das James Dean auch Jahrzehnte nach seinem Tod anhaftet, fasziniert viele junge Koreaner, scheint sie aber nicht
zu inspirieren. Rebellen à la James Dean sind selten in Korea.
»Korea braucht eine 68er Revolution – und zwar dringend!«, sagte meine Freundin Berangère, als wir in einem japanischen Nudelsuppenrestaurant
zu Mittag aßen. Berangère arbeitet als Französischdozentin an einer der Seouler Eliteuniversitäten und hat jeden Tag mit jungen
Leuten zu tun, die aus überlebten Traditionen ausbrechen wollen, aber nicht wissen wie. Tabuthemen wie Scheidung, unverheiratet
zusammenlebende Paare, Selbstverwirklichung und Berufstätigkeit der Frau, nimmt Berangère als Ausgangspunkt für ihren Konversationsunterricht.
Diese Diskussionen werden immer lebhaft, weil die jungen koreanischen Studenten denken, dass sie zumindest mit der ausländischen
Dozentin offen reden können.
Für Berangères Studenten wurde der Französischunterricht durch manchmal völlig unerwartete Geständnisse ihrer Kommilitonen
zur interessantesten Lehrveranstaltung der Woche. Eine Studentin aus einer südlichen Provinz erzählte, dass sie heimlich mit
ihrem Freund zusammengezogen war. Das Geld, das sie durch die geringeren Mietkosten sparten, deponierten sie auf einem Extrakonto.
Sie wollten es später für ein Promotionsstudium in Frankreich verwenden – wo sie weiterhin frei und unbehelligt zusammenleben
konnten.
|86| Wenn junge Koreaner der Kontrolle ihrer Eltern entwischen, praktizieren sie einen Lebensstil, der dem ihrer Eltern diametral
entgegengestellt ist. Das manifestiert sich nicht nur in der veränderten Einstellung zu Liebe und Ehe, sondern auch in der
Nachahmung des westlichen Lebensstils. Junge Koreaner trinken Kaffee statt grünem Tee und verbringen viel Zeit in Coffeeshops
nach amerikanischem Vorbild. Auf der Straße sieht man Scharen von jungen Frauen, die mit Kaffeebechern von Starbucks herumlaufen,
weil sie es so in amerikanischen Fernsehserien wie ›Sex and the City‹ gesehen haben. Auch den Kleidungsstil der Serienheldinnen
versuchen viele junge Koreanerinnen zu kopieren.
Zu Hause wird nur koreanisches Essen aufgetischt, weil die Eltern ausländische Küche meistens für ungenießbar halten. Wenn
sich junge Koreaner mit ihren Freunden treffen, essen sie Pizza und Pasta und nennen das Essen, das ihre Eltern mögen, »Alte-Leute-Essen«.
Wenn ich mit jungen Koreanern in ein billiges koreanisches Restaurant gehen möchte, sind meine Freunde fast ausnahmslos entsetzt
und fragen, warum ich denn dieses »Alte-Leute-Essen« bestellen wolle.
Zu Hause sind diese jungen Koreaner wie ausgewechselt. Sie essen, ohne zu murren, was auf den Tisch kommt – und vermutlich
schmeckt es ihnen sogar besser als Pizza und Pasta. Wer vorgibt, ausschließlich westliches Essen zu konsumieren, gilt derzeit
als weltgewandt und cool.
Allerdings haben die wenigsten Ausländer Gelegenheit, ihre koreanischen Freunde und Kollegen zu Hause zu beobachten. Die meisten
älteren Koreaner sind Ausländern gegenüber skeptisch eingestellt und laden die ausländischen Freunde ihrer Kinder lieber nicht
zu sich nach Hause ein. Diese Scheu hat zum einen mit der Sprachbarriere und kulturellen Differenzen zu tun. Zum anderen fürchten
viele ältere Koreaner den schlechten Einfluss, den Ausländer auf ihre Kinder ausüben könnten.
Diese Skepsis gegenüber Fremden, die manchmal in kaum |87| mehr verschleierten Rassismus ausartet, macht vielen Ausländern in Korea das Leben schwer. So unangenehm diese Fremdenfeindlichkeit
sein mag, ein Blick in die Geschichtsbücher verrät, warum es sie gibt. Korea galt jahrhundertelang als das »hermetische Königreich«,
das sich nicht – wie seine Nachbarländer – nach Westen öffnete. Fremde waren in Korea immer unwillkommen, denn die wenigen
Fremden, die koreanischen Boden betreten konnten, kamen
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